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Meister Nishijima praktiziert Buddhismus seit über 60 Jahren. Er war Schüler von Meister Kodo Sawaki, einem japanischen umherziehenden Priester, der berühmt dafür war unermüdlich zu betonen, dass die Praxis des Zazen ihren richtigen zentralen Platz im Buddhismus erhält und der selbst intensiv praktizierte. Meister Nishijima wurde von Meister Renpo Niwa als Priester ordiniert, der später als Abt den Zentraltempel des Soto-Buddhismus leitete. Nishijima Roshi hat viele Bücher über Buddhismus u.a. von Dogen sowohl in Japanisch als auch in Englisch geschrieben. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren hat er in Japanisch und Englisch viele Vorträge gehalten, Seminare und Sesshins geleitet sowie genaue Anweisungen zum Buddhismus und vor allem zum Zazen gegeben. Deutsche Fassung: Yudo J. Seggelke

Samstag, 28. Dezember 2013

Kapitel 19 Untersuchung der Zeit (Kala parikasha) Nagarjuna, MMK

Die wirkliche existentielle Zeit des Buddhismus ist in der Theorie und Praxis von sehr großer Bedeutung. Auch in der modernen Physik ist das Verhältnis von Zeit und Raum von zentraler Bedeutung. Diese Kenntnisse standen den Buddhisten zur Zeit Nagarjunas natürlich noch nicht zur Verfügung, aber die großen Meister hatten eine tiefe intuitive Einsicht, was die existentielle Zeit, die Sein-Zeit für den Menschen und die Welt ist.

Der Buddhismus hat als wesentliche Grundlage die Wirklichkeit des wahre Handelns im gegenwärtigen Augenblick. Dies ist die wahre Zeit der Existenz. Weder die Vergangenheit noch die Zukunft lassen das Handeln in der Wirklichkeit zu. Sie sind lediglich Erinnerungen und Widerspiegelungen in unserem Gehirn. Ich bezeichne sie als lineare Zeit. Für organisatorische und technische Fragestellungen und Aufgaben ist die lineare Zeit sicher ein wichtiges Hilfsmittel, aber für die wesentlichen Bereiche der existenziellen Wirklichkeit, nicht zuletzt in der spirituellen Erfahrung, ist der gegenwärtige Augenblick wichtiger als alles andere.

Gegenüber dem wahren erlebten Augenblick ist eine Zeitangabe mit dem Begriff „Gegenwart“ sehr viel abstrakter und ungenauer. Daher zähle ich die Vorstellung der Gegenwart wie die Vergangenheit und Zukunft zur linearen Zeit und nicht zur Existenz-Zeit.

Im Shôbôgenzô von Meister Dôgen gibt es ein gesondertes Grundlagen-Kapitel zur Sein-Zeit mit der japanischen Bezeichnung Uji, wobei U die Existenz und ji die Zeit bedeutet. In Vers 6 dieses Kapitels kommt Nagarjuna viele Jahrhunderte früher auf die gleichen existentiellen Aussagen über die wahre Zeit wie Dôgen.

Vers 1
Nagarjuna nennt die Vergangenheit eine Zeit, in welcher der gegenwärtige Augenblick noch nicht da ist. Wenn der gegenwärtige Augenblick angekommen ist, wird die Vergangenheit zur Erinnerung in unserem Gehirn und das ist eine unvollständige Repräsentation dessen, was in der Vergangenheit wirklich gewesen ist. Die Augenblicke in der Vergangenheit waren Wirklichkeit, aber die Erinnerung daran ist es nicht.

Vers 2
Der gegenwärtige Augenblick hat Stabilität und Wirklichkeit. Dagegen gibt es für die Vergangenheit viele Unsicherheiten und wir können nie ganz sicher sein, was wirklich in der Vergangenheit gewesen ist.

Die instabile Situation in der Vergangenheit kann auch mit Worten niemals genau beschrieben werden.

Vers 3
Nagarjuna nennt die Vergangenheit jene „Zeit wenn der gegenwärtige Augenblick noch nicht angekommen ist“. Der gegenwärtige Augenblick ist dagegen die wirkliche Zeit, während die Vergangenheit nur ungenau gedacht und erinnert werden kann.

Das gebräuchliche Konzept der linearen Zeit kann für die Wirklichkeit nicht verwendet werden.

Vers 4
Handeln ist die Grundlage für die wirkliche Welt hier auf der Erde und für die gedachte abstrakte Welt, die oberhalb der wirklichen Welt ist. Beide Welten bewegen sich durch Handeln.

Im Handeln des Augenblicks verschwinden Bewertungen wie das Höchste oder das Niedrigste und das Mittlere. Sie werden zu einer Einheit.

Vers 5
Was wir üblicher Weise als Zeit verstehen, ist die Kontinuität von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft. Ohne diese Kontinuität ist das Konzept der Zeit im üblichen Sinne sinnlos. Ohne die Kontinuität und Linearität gibt es überhaupt kein Konzept der Zeit.

Konkrete Erfahrungen gibt es aber nur im gegenwärtigen Augenblick. Sie können als Wirklichkeit erfasst werden. Demgegenüber kann Vergangenheit und Zukunft nicht wirklich erfasst werden, weil es sich nur um Erinnerungen und Erwartungen für die Zukunft handelt. Die wirkliche Sein–Zeit im Augenblick kann aber mit dem Verstand nicht gedacht werden.

Vers 6
Die wirkliche Zeit, also der gegenwärtige Augenblick, ist unauflösbar mit der wirklichen Existenz verbunden. Ohne Sein-Zeit gibt es keine Existenz und umgekehrt.

Daher ist es ausgeschlossen, dass die Existenz sich von der Zeit entfernt, also unabhängig von ihr ist. Alle Ideen über die Zeit sind dagegen abstrakt und keine konkrete Wirklichkeit.


Außerhalb des gegenwärtigen Augenblicks kann es keine Existenz geben. Wenn es keine wirkliche Existenz gibt, kann es auch keine wirkliche Zeit geben.

Mittwoch, 4. Dezember 2013

Kapitel 18 Untersuchung der unveränderlichen Seele nach dem alten indischen Glauben, Atman (Atma pariksha) Nagarjuna, MMK


Der Glaube an einen ewigen Seelenkern, der im alten Indien Atman genannt wurde, wurde von Gautama Buddha abgelehnt. Auch Nagarjuna kritisiert die Atman – Lehre in diesem Kapitel.

Vers 1
Die fünf Komponenten des Menschen (Skandas) entstehen, dauern an und vergehen nach der buddhistischen Lehre. Wenn die Atman – Seele in gleicher Weise existieren würde, müsste sie auch diese Eigenschaften haben.

Auch das Universum besteht aus den fünf Skandas. Wenn es eine Atman – Seele gäbe, müsste die sich jedoch von den Skandas unterscheiden, aber das ist nicht möglich.

Vers 2
Nagarjuna beschreibt hier die Atman – Seele als Erfindung und Fantasie.

Wenn man sich selbst ablehnt, bedeutet dies, dass man sich opfert. In diesem Sinne hatte Gautama Buddha extreme Askese geübt, aber dabei die Einheit seines Geistes verloren.

Nagarjuna beschreibt, dass sich eine Art Urseele mit einer anderen in der Askese treffen soll, aber beide dabei zugrunde gehen. Dies sei ähnlich der Situation, in der man sich selbst opfert.

Vers 3
Sich für etwas Wichtiges und einen anderen Menschen einzusetzen bedeutet aber, dass wir unser kleines Ego opfern. Das ist eine Wirklichkeit des selbstlosen Handelns, die im Buddhismus sehr wichtig ist.

Ein solches Handeln kann sichtbar oder unerkannt sein. Beim wahren Bodhisattva – Handeln gibt es kein Streben nach Vorteil für sich selbst und keine ostentative Darstellung des Handelns.

Vers 4
In diesem Vers wird herausgearbeitet, dass die Worte „ich“, „mein“ usw. suggerieren, dass wir uns selbst von außen sehen. Wir trennen dann in ein Ich ab, das ein anderes Ich von uns selbst wie von außen beobachten kann.

Dies ist natürlich eine fehlerhafte Hilfskonstruktion. In Wirklichkeit gibt es nur eine Einheit, die im Zustand des Gleichgewichtes verwirklicht wird.

Vers 5
Im täglichen Leben und auch in der Praxis des Samadhi (Zazen) gibt es Schmerzen und Leiden. Aber durch die buddhistische Praxis erreichen wir einen völlig freien Zustand. Dieser ist gewissermaßen die Umkehr der Schwierigkeiten in der Praxis.

Im Zustand des Gleichgewichtes wird die abstrakte Vorstellung von der sichtbaren Welt aufgelöst und durch die Wirklichkeit ersetzt.

Vers 6
Wer an eine Atman – Seele glaubt, unterteilt die Welt in die eigene Seele und den Rest der Welt. Es ist realistischer und besser, beides in Frage zu stellen und nicht als Wirklichkeit anzusehen.

Ein solches Konzept erleichtert den Umgang mit der Wirklichkeit in unserem Leben nachhaltig gegenüber der Vorstellung eines dauerhaften Seelenkerns nach der Lehre des Atman.

Vers 7
Abstrakte Vorstellungen und Welten können den menschlichen Geist in gewissem Umfang beruhigen und besänftigen. Aber sie sind nicht die Wirklichkeit und nicht stabil.

Im Zustand des Gleichgewichts zeigt sich demgegenüber die wahre Welt in ihrer ganzen Ruhe, Ausgeglichenheit und Schönheit, und wir sind ein Teil von dieser Welt. In der Balance werden wir nicht gestört und beunruhigt.

Vers 8
Die Wirklichkeit dieser Welt lässt sich rein intellektuell nicht beweisen und auch nicht verneinen. Deshalb hat Gautama Buddha die Frage, ob wir die Existenz der Welt mit dem Verstand erfassen können, als unsinnig beiseite gelassen.

Im Buddhismus ist es klar, dass es eine Einheit zwischen Körper und Geist gibt, und ein isolierter Geist kann die wahre Existenz oder das Gegenteil überhaupt nicht erfassen.

Vers 9
Die im Kapitel 1 genannte Vierfache Wahrheit manifestiert sich im Gleichgewicht und in Ruhe. Sie ist nicht außergewöhnlich und erfreulich. Was nicht gesehen werden konnte, wird sichtbar werden.

Die ursprüngliche Existenz gibt es wirklich, sie kann nicht durch etwas anderes verändert werden. Sie hat ihre eigenen Charakteristika der Wirklichkeit: Die Wirklichkeit der Welt ist so, wie sie ist

Vers 10
In dieser Welt hat jedes einzelne Ding seine besondere und eigene Existenz und setzt sie ohne Unterbrechung fort. Es kann niemals identisch mit etwas anderem sein. Im gleichen Sinne hat jeder Augenblick eine eigene Entität und unterscheidet sich vom anderen.

Ohne die vollständige Trennung jedes Augenblicks vom anderen kann die Ewigkeit nicht existieren.

Vers 11
Diese Welt hat nicht mehr als ein Ziel und hat nicht mehrere Ziele. Sie ist niemals unterbrochen und niemals ewig.

Solche Sichtweisen könnten die Wirklichkeit nicht angemessen erklären.

Nagarjuna sagt hier, dass die wirkliche Welt nicht den Göttern gehört. Das Universum ist nichts Übernatürliches: das sagen alle Buddhas.

Vers 12
Die Idee der Atman – Seele gibt es nicht bei denen, die Buddhas genannt werden und auch nicht bei denen, die Shravakas (direkte Schüler und Hörer Buddhas) genannt werden.

Auch bei den Buddhas, die aus sich selbst erwacht sind, wird das Problem der Atman – Seele als theoretisch angesehen.

Nagarjuna zählt hier also die drei in den frühen Sutras genannten Formen der Heiligen und Erwachten auf: die Buddhas selbst, die von ihnen unmittelbar Lernenden und die aus sich selbst Erwachten.


Mittwoch, 20. November 2013

Untersuchung der Einheit von Handeln und Ergebnis (Karmaphala pariksha), Nagarjuna, MMK, Kapitel 17, Teil 4


Vers 22
Wenn eine Handlung nicht wirklich vollzogen wird, sondern nur subjektiv in unserer Vorstellung da ist, scheint sie ewig zu sein; in anderen Fällen scheint sie instabil zu sein.

Die Vorstellung der Ewigkeit entsteht vor allem bei Menschen mit idealistischer Lebensphilosophie, während Instabilität und Fragilität meist verbunden ist mit einer materialistischen Lebensphilosophie.

Nur wirkliches Handeln hat Wirkungen, die sich in der Welt bis in die Ewigkeit fortsetzen.

Vers 23
In uns steigen immer wieder Ängste hoch, dass wir unsere Aufgaben nicht verwirklichen können. Das ist besonders der Fall, bevor wir mit dem Handeln begonnen haben.

Wenn wir jedoch handeln, gibt es eine solche Angst nicht, die subjektiv im Geist entsteht: der Augenblick gehört dem Tun und Handeln.

Bei Ängsten und Zweifeln fürchten wir, dass unser Handeln unzureichend ist und in der Tat gibt es viel Fehlerhaftes und auch Unmoralisches in der Welt.

Vers 24
Wenn die wahre Praxis verhindert und unterlassen wird, ist es nicht möglich, dass alles entspannt und im Gleichgewicht ist.

Ohne Praxis (vor Allem die Leerheits-Meditation Zazen) fehlt uns die Klarheit zu unterscheiden, was wahres Handeln und was falsches Handeln ist.

Ohne Gleichgewicht können wir uns nicht wirklich entspannen und nicht wirklich Ruhe finden. Dann gibt es nur eine scheinbare Entspannung, die uns aber nicht wirklich neue Energie bringt, sondern eher umgekehrt, Energie verbraucht.

Vers 25
Gereifte wirkliche Handlungen setzen sich fort durch weitere Handlungen, die immer besser werden.

Durch solches Handeln eröffnet sich unsere wahre Natur: unsere wahren Eigenschaften manifestieren sich.

Vers 26
Wenn wir eine Situation als leidvoll und äußerst unerfreulich empfinden, bedeutet dies in Wirklichkeit meist nur, dass wir sie unbedingt ändern wollen und als Wirklichkeit nicht hinnehmen wollen.

Handeln ist die wahre Wirklichkeit dieser Welt. Leidvolle Situationen empfinden wir allerdings auch als Wirklichkeit, obgleich sie im Grunde nur durch die eigenen Emotionen erzeugt werden. Sie werden also der ursprünglichen Welt hinzugesetzt.

Sehr viele Leiden haben psychische Ursachen und sind im Gegensatz zu körperlichen Leiden ohne materielle Grundlage.

Vers 27
Handeln und körperliche Leiden sind mit dem Körper verbunden: sie sind wirklicher als Begriffe und Lehrinhalte.

Im Zustand des Gleichgewichts bilden Körper und Geist eine Einheit. Daher ist eine Abgrenzung des physischen Leiden nicht einfach und eigentlich auch nicht sinnvoll.

Im Gleichgewicht gibt es kaum noch psychische Leiden, während körperliches Leiden ertragen werden muss. Aber der Begriff des Leidens verliert dann sehr an Bedeutung.

Vers 28
Wer seine Abhängigkeiten und Begierden nicht überwindet, wird die buddhistische praktische Philosophie nicht verstehen und kann auch nicht im Gleichgewicht leben. Das ist leider eine Tatsache in dieser Welt.

Auch wer nur das schale Vergnügen sucht und allen Schwierigkeiten aus dem Wege geht, wird den Buddha – Weg gerade nicht gehen können. Damit kann er sein eigentliches Potential nicht entdecken und nicht zur Blüte bringen.

Vers 29
Die Vierfache Wahrheit, die im ersten Kapitel beschrieben wird, ist eine Lehre und besteht zunächst einmal nur aus Worten, so wichtig sie sein mögen.

Grundlage der Wirklichkeit ist allein das Handeln im gegenwärtigen Augenblick. Handlungen sind ursprünglicher als Person, die handelt, weil die Person aus den Handlungen abgeleitet und abstrahiert ist. Die Menschen sind also Manifestationen der Handlungen.

Vers 30
Ergebnisse sind Bewertungen sind Ideen des menschlichen Gehirns: sie sind nur indirekt mit Handlungen verbunden. Handlungen sind die Basiseinheiten der Wirklichkeit, während der Mensch mit seinen Ideen davon abgeleitet ist.

Oft streben Menschen Vergnügen und vordergründige Freuden als Ergebnisse ihres Handelns an. Aber solche Ergebnisse sind keine Wirklichkeit, sondern entspringen dem Denken und subjektiver Gefühle. Wahres Handeln ist etwas anderes

Vers 31
Die einfache Tatsache der Vollendung ist etwas grundsätzlich anderes, als dessen Bewertung in Form eines angestrebten Ergebnisses. Die oft beklagte Differenz zwischen der idealen Vorstellung des Ergebnisses und dem wirklichen Zustand genau im Augenblick ist aber auch keine Wirklichkeit und hat meist keine Bedeutung.

Nagarjuna sagt hier, dass wir uns nicht dadurch deprimieren lassen sollen, dass wir ein ideales gedachtes Ergebnis mit dem wirklichen Zustand vergleichen. Wichtig ist, dass wir handeln und praktizieren und nicht auf das Ergebnis „schielen“.

Vers 32
Was durch Handeln erzeugt wird, hat eine Wirklichkeit der Form und des Inhalts. Es ist direkt mit dem Handeln verknüpft und nur indirekt mit dem Menschen, der handelt.

Handeln ist etwas fundamental anderes als Ideen in unserem Geist. Es geht dabei um das Hier und Jetzt und auch nicht primär darum, welche Dinge wir in der Vergangenheit erzeugt haben. Die Gegenwart ist wirkliches Handeln und dies ist die Wirklichkeit des Universums.

Vers 33
Das Leiden, die Ideen über Handeln, materielle Formen und auch die Ideen über handelnde Menschen sind genauso unwirklich wie gedachte Ergebnisse, denn Ideen und Vorstellungen werden in unserem Gehirn erzeugt und das ist nicht die Wirklichkeit.

Man kann sie mit der imaginären, nicht wirklichen Stadt Gandharva gleichsetzen, die es nur in der Vorstellung gibt und in der es nach der Legende keine Verbrechen gibt, sodass es dort auch keine Gefängnisse gibt. Aber dies alles sind nur illusionäre Vorstellungen. Man kann sie mit Träumen und Bildern vergleichen, die wir im Schlaf sehen. Wer träumt nicht von einer solchen idealen Stadt? Aber die gibt es nicht!


Sonntag, 20. Oktober 2013

Neues Buch: Das Geheimnis der Buddha-Natur


Die tiefe Erfahrung des Zen-Meisters Dogen
Von G. W. Nishijima und Yudo J. Seggelke

Was ist die Buddha-Natur? Und warum müssen wir überhaupt intensiv und ausdauernd praktizieren, wenn die Buddha-Natur unser wahres Wesen ist? Diese Fragen waren für Zen-Meister Dogen von existenzieller Bedeutung und wurden zum zentralen Bezugspunkt in seinem Leben. Sie werden in diesem Buch fundiert und doch verständlich behandelt. Dogen gibt uns dazu verblüffende Antworten.
Die ureigene Erfahrung des Mysteriums der Buddha-Natur kann nur in der Einheit von Körper-und-Geist im lebendigen Strom des Lebens und der Meditations-Praxis erfahren werden. Genau davon handelt dieses Buch.
Um die verstehen zu können, ist es wichtig, seine Grundlagen zumindest in den zentralen Punkten zu kennen. Die Grundlagen der Lehre und Schriften Dogens werden von G. W. Nishijima in Teil I des vorliegenden Buches dargestellt. Im Teil II werden von Yudo J. Seggelke zunächst die Aussagen zur Buddha-Natur des indischen Buddhismus beschrieben. Danach folgt der Hauptteil zu Meister Dogens Buddha-Natur aus dem Shobogenzo.

Hardcover, 176 Seiten 10 Abb., 20,90;
ISBN 978-3-941380-15-8
E-Book: 6,49


Bestellung in jeder Buchhandlung und per Internet, z. B.:



Mittwoch, 16. Oktober 2013

Untersuchung der Einheit von Handeln und Ergebnis (Karmaphla pariksha) Nagarjuna, MMK, Kapitel 17, Teil 2


Vers 12
Wenn Lust, Großartigkeit und auch Laster sich immer mehr vergrößern und mit fantastischen Illusionen verbunden werden, kann man die Dinge und Phänomene der Wirklichkeit überhaupt nicht mehr erkennen.

Die realen Dinge und Phänomene haben dann das Aussehen fantastischer Fiktionen, sie sind gerade nicht mehr die realen Dinge.

Vers 13
Nagarjuna möchte noch einmal unterstreichen, dass fantastische Einbildungen und Fiktionen dazu neigen, sich mit immer neuen Fiktionen und Illusionen zu verbinden, sich immer mehr zu vervielfältigen.

Diese Tatsache in der Welt wird von allen Buddhas Pratyeku-Buddhas und Shravakas gelehrt.

Pratyeku-Buddhas haben die Erleuchtung aus sich selbst erlangt und Shravakas sind Hörer der Lehre, sie sind zwar eher theoretisch orientiert, aber haben große Klarheit. Sie waren meist Hörer von Gautama Buddhas.

Vers 14
Gleichnis des Fliegens: Beim Fliegen gibt es fortlaufende Bewegungen der Flügel und dies ist genau die Wirklichkeit des Handelns. Nur durch diese Bewegungen gibt es die Wirklichkeit des Fliegens, statisches Fliegen gibt es nicht

Die vier physikalischen Elemente (Erde, Wasser, Feuer und Luft) gehören zur Wirklichkeit und sie sind Teil-Wirklichkeiten der Welt, die genauso sind wie sie sind.

Die Einteilung der physikalischen Elemente im alten Indien basierte noch nicht auf der naturwissenschaftlichen Forschung wie heute. Wir können sie aber einfach als Einteilung der physikalischen Welt verstehen. Die ganze Wirklichkeit bildet selbstverständlich eine Einheit, sodass die physikalischen Elemente nur deren Dimensionen wiedergibt.

Vers 15
Es macht für uns meist einen Unterschied, ob eine Arbeit vollständig beendet wird oder als Tun nur für eine bestimmte Zeit anhält. Aber was heißt eigentlich vollständig. Es handelt sich nämlich dabei um Einschätzungen durch unseren Geist.

Die Zeit schreitet ohne Unterbrechung und Beendigung unaufhaltsam voran. Nach der Annahme der linearen Zeit gibt es dadurch bestimmte Ergebnisse. Die Wirklichkeit der Zeit existiert aber immer nur im Augenblick. Gleichwohl mag die lineare Zeit eine sinnvolle Annahme sein, die für viele Bereiche des Lebens nützlich ist, z. B. in der Organisation.

Vers 16
In Bezug auf das Handeln als wahres Tun ist es gleich, ob es sich um „vollständiges Beenden“ oder vorübergehendes Arbeiten an einer Aufgabe handelt. Maßgeblich ist das wahre Handeln, das tatsächlich durchgeführt wird.

Wenn wir den Sinn für die Wirklichkeit verlieren, geht damit meist automatisch der Sinn für ethisches Handeln verloren. Böse Ideologien und Fantasien beherrschen dann den Menschen. Die damit zusammenhängende Zerstörung übersteigt dann jedes vernünftige Maß wie z. B. bei ideologischen Glaubenskriegen.

Vers 17
Es gibt verschiedene Arten von Streben, die sich unterscheiden und oft miteinander verbunden sind. Es gibt aber immer einen direkten Bezug zum wirklichen Handeln und darauf kommt es an.

Handeln kann z.B. mit dem Streben religiöser Ideale oder mit materiellen Zielen, wie Geld und Ruhm verbunden sein. Es kommt dabei immer auf das wahre Handeln selbst an, also wie man handelt: ethisch gut oder nicht.

Es gibt verschiedene materielle Dimensionen, die sich auch ändern können. Nur die Wirklichkeit selbst manifestiert sich als ein einheitlicher Bereich.

Vers 18
Die wirklichen Tatsachen dieser Welt basieren immer auf Handeln. Handlung ist also die fundamentale Wahrheit dieser Welt, während die Dinge und sogar wir selbst als Personen daraus abgeleitet sind: Wir sind, was und wie wir handeln. Eine Person ist also eine Abstraktion. Noch einmal: In Wirklichkeit geht es um das Handeln des Menschen, das die eigentliche Realität ist.

Die Welt und das Universum können wir also nicht vom Handeln trennen. Handeln und Universum sind in einem guten gereiften Zustand genauso wie sie sind.

Vers 19
Was Resultat genannt wird, ist unveränderlich und unabhängig von der Zeit, es hat keine Beziehung zum Entstehen und Vergehen der Dinge und Phänomene. Meistens ist ein Ergebnis aber mit einem bestimmten starren Bild verbunden und beinhaltet subjektive Bewertungen wie günstig, ungünstig, leidvoll oder Glück bringend.

Daraus wird deutlich, dass das Resultat eine Vorstellung im Gehirn ist und nicht die Wirklichkeit selbst, ob bewusst, aber viel häufiger unbewusst.

Vers 20
Der Gleichgewichtszustand wird in Sanskrit Shunyata (oft als Leere übersetzt) genannt und kennzeichnet einen Augenblick, sodass er nicht erscheint und nicht vergeht.

Wenn wir nicht im Gleichgewicht sind und keine Selbststeuerung haben, machen wir viele Fehler im Leben, z.B. wenn wir zu naiv und leichtgläubig sind oder wenn wir dauernd zweifeln und zögern und daher richtiges Handeln verpassen. Viele Menschen leiden daher, machen unnötige Fehler und kämpfen sich mühsam durchs Leben. Dies liegt daran, dass sie ihre wahre Natur noch nicht erkannt haben.
Gautama Buddha lehrt jedoch, dass dies nicht dauernd so sein muss, sondern beendet werden kann.

Handlungen sind etwas, das immer weiter fortwirkt, sodass man sagen kann, dass sie ewig sind.

Vers 21
Wenn es noch keine konkrete Handlung gibt, spielt sich alles als Vorstellung im Gehirn ab. Dann können sich die konkreten Dinge und Phänomene nicht zeigen wie sie sind. Dies gilt auch für Vorstellungen jetzt und auch in Zukunft.

Hypothetische Situationen gibt es nur im Bereich der Vorstellung und des subjektiven Denkens.

Auch die Lehren Nagarjunas müssen daher in der Praxis erprobt werden, sonst bleiben sie reine Theorie und beinhalten nur Vorstellungen.



Dienstag, 8. Oktober 2013

Untersuchung der Einheit von Handeln und Ergebnis (Karmaphla pariksha) Nagarjuna, MMK, Kapitel 17, Teil1


Beim Tun und Handeln unterteilen wir normalerweise zwei Bereiche: die subjektive Vorstellung zum Handeln und die Wahrnehmung des Objektes des Handelns. Nach der buddhistischen Lehre gibt es jedoch nur eine Einheit von Körper-und-Geist, und das ist die Realität, die genau mit dem Augenblick verschmolzen ist, also im Augenblick stattfindet.
Eine Trennung der beiden Bereiche gibt es in der buddhistischen Lehre nicht. Dies erfordert ein neues Verständnis und eine neue Ausdrucksweise, die in diesem Kapitel behandelt werden.

Vers 1
Natürliche körperliche Bedürfnisse werden oft durch Ideale und idealistische Ziele eingegrenzt, verzerrt oder sogar unterdrückt. Dabei sind mentale Vorgänge wichtig und sie haben bei uns oft sogar Priorität gegenüber dem Körper. Sie geben dem Handeln einen Sinn.

In einem solchen Sinn handeln wir z.B. freundlich und selbstlos gegenüber anderen Menschen, insbesondere wenn wir auch von ihnen ähnlich behandelt werden. Dann entsteht durch das Handeln eine positive Wechselwirkung zwischen den Menschen

Nach Nagarjuna entspricht dieses auch den Gesetzen der Welt und des Universums: Ein solches Handeln ist auf die Gegenwart und auf die Zukunft gerichtet.

Vers 2
Wenn wir über das Handeln reden, sollten wir sorgfältig und achtsam vorgehen und dabei die Unsicherheiten der verbalen Beschreibung nicht unterschätzen. Bei jeder Beobachtung sind in erheblichem Maße mentale Prozesse beteiligt, sodass immer subjektive Aspekte einfließen.

Und weiter: Bei der Beschreibung von Handlungen neigen wir dazu, Vereinfachungen durchzuführen, die vielleicht gar nicht gerechtfertigt sind.

Vers 3
Wenn wir über Fragen, Probleme und Zusammenhänge des Handelns diskutieren und kommunizieren, basiert dies vor allem auf Vorstellungen, also mentalen Bereichen.

Wenn wir allerdings näher an die Wirklichkeit gelangen wollen, reichen mentale Diskussionen nicht aus. Wir müssen dann auch physikalische und materielle Dimensionen der Wirklichkeit einbeziehen. Dies ist besonders wichtig für die Untersuchung des wirklichen Handelns, das über Ideen und materielle Aspekte hinausgeht.

Vers 4
Viele Gespräche und Kommunikationen laufen ab, ohne dass es zu einem wirklichen Gespräch und Austausch kommt, also ohne dass valide Informationen übermittelt werden oder neue kreative Erkenntnisse der beteiligten Menschen entstehen.

Derartige inhaltslose Gespräche benutzen oft überhaupt keine eigenen reflektierten Informationen, sodass das Gedächtnis fast ausgeschaltet ist.

Vers 5
Das Streben nach Erbauung und vordergründigem Spaß begrenzt den Menschen, ganz gleich ob die damit verbundenen Aktivitäten rein sind oder nicht. Dies gilt z.B. auch für die eigentliche sinnvolle Meditation, wenn wir also nur danach, streben einen angenehmen Zustand zu erlangen und etwas Angenehmes erleben wollen. Wahrer Samadhi und die Zazen-Meditation sind etwas ganz anderes: dabei erstreben wir nichts zu unserem Vorteil und nichts zu unserer Erbauung.

Im Buddhismus gibt es sieben Dimensionen der Balance: ausgeglichenes Bewusstsein, Untersuchung des Gesetzes des Universums, Energie und Ausdauer, wahre tiefe Freude, Gelassenheit, Konzentration und Gleichmut.

Nagarjuna sagt, dass unser Handeln dadurch Tiefe und Schönheit hat. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass diese sieben Aspekte eine Erinnerung daran sind, was sich ereignet hat und vergangen ist. Das gegenwärtige Handeln ist davon zu unterscheiden.

Vers 6
Im Buddhismus ist der gegenwärtige Augenblick die wahre Zeit, in der das Handeln als Wirklichkeit stattfindet. Die übliche Vorstellung einer linearen Zeit als Wirklichkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft muss verlassen werden, um zur Wirklichkeit zu gelangen. Wirklichkeit und Augenblick sind identisch!

Handeln ist auch dann klare Wirklichkeit, und sie kann mit dem Verstand nicht annäherungsweise oder gar vollständig erfasst werden.
Ergebnisse des Handelns sind darüber hinaus Bewertungen, die voraussetzen, dass man Vergleiche zwischen verschiedenen Zeitpunkten nach der linearen Zeit durchführt. Die Bewertungen der Ergebnisse sind daher keine Wirklichkeit. Daher ist das Konzept der Wirklichkeit von Ergebnissen absurd.

Vers 7
In diesem Vers geht es um die wichtige Beziehung von Ursache und Wirkung im Gegensatz zum Ergebnis. Ein Ergebnis ist immer vom menschlichen Geist bewertet, also ein mentaler Prozess, der verschiedene Zustände vergleicht, die im Sinne der linearen Zeit nacheinander da sind. Und objektive Wirkungen sind etwas anderes als bewertete Ergebnisse.

Nagarjuna bringt dazu das in Indien bekannte Beispiel von Samen und Keimen: Ohne Bewertung können wir davon einfach sprechen, dass der Keim die Wirkung ist. Wenn man die Wahrheit der Zeit als Augenblick voraussetzt, gibt es eine Augenblick des Samens, und einen anderen Augenblick des Keimes, beide sind voneinander verschieden und etwas anderes ist.

Ergebnisse kann es nur dann geben, wenn man eine Kontinuität in der Zeit voraussetzt, der Samen wird dann als Anfang einer derartigen Kontinuität gesehen.
Bei der linearen Zeit gibt es keine Augenblicklichkeit der Welt und dieses Konzept ist daher ohne Wirklichkeit. Die Vorstellung der Ewigkeit ist jedenfalls unwirklich, wenn wir die Sein-Zeit des Augenblicks bejahen.

Vers 9
Was wir Ergebnis nennen beruht nur auf der Kontinuität des Denkens, nicht aber auf der Wirklichkeit. In unserem denkenden Geist bewerten wir die Wirkung einer Handlung und vergleichen sie mit einem früheren zeitlichen Zustand, z.B. vor der Handlung. Das Ergebnis entsteht aus dieser Bewertung und dem Vergleich in unserem Denken, außerhalb unserer Gehirntätigkeit gibt es ein Ergebnis als Vergleich oder Bewertung aber nicht.

Vers 10
Ein Ergebnis ist Inhalt des Denkens und nicht die Wirklichkeit außerhalb des Denkens. Die Bewertungen gibt es schon vor dem eigentlichen Handeln in unserem Geist, sie erzeugen dann ein Ergebnis durch Vergleich. Daraus ergibt sich das erstaunliche Phänomen, dass die wesentlichen Merkmale eines Ergebnisses, nämlich unser  Bewertungsraster, zeitlich schon vor der Handlung liegen. Dabei setzen wir die lineare Zeit und deren Kontinuität voraus.

Da sich Bewertungen auch ändern können, ist das sich daraus ergebende Ergebnis weder plötzlich noch ewig.

Vers 11
Es ist sinnvoll auf ein Ziel im Universum direkt zu zugehen. Dies gilt besonders für das ethisch gute Verhalten nach den zehn buddhistischen Gelöbnissen:
1. nicht zu töten, 2. nicht zu stehlen, 3. kein Missbrauch der Sexualität, 4. nicht zu lügen, 5. sich von Alkohol, Drogen usw. fernzuhalten, 6. Andere nicht zu kritisieren, 7. nicht stolz auf sich selbst zu sein und andere herabzusetzen, 8. nichts zu begehren, 9. Hass und Aggression keinen Raum zu geben und 10. die drei Kostbarkeiten Buddha, Dharma und Zanga nicht zu beschmutzen.

Diese ethischen einzelnen Ziele und angestrebte Ergebnisse des Handelns sind ohne jeden Zweifel sinnvoll und Kernstück der buddhistischen Ethik. Aber sie sind ebenfalls mentale Überlegungen, und sie sind eng mit der sinnlichen Wahrnehmung des Verhaltens verbunden.

Derartige angestrebte Ergebnisse sind daher Überlegungen der Zukunft oder Vergangenheit und manchmal der Gegenwart. Sie sind Inhalt unseres Geistes im gegenwärtigen Augenblick.

Freitag, 27. September 2013

Untersuchung der Einheit von Begrenzung und Befreiung (Bandhamoksha pariksha) Nagarjuna, MMK, Kapitel 16



Ob wir uns eingeengt und eingegrenzt oder frei fühlen, hängt ganz wesentlich von unserer eigenen geistig-psychischen Situation ab. Unser psychischer und geistiger Zustand wird nach meiner festen Überzeugung ganz wesentlich durch unser vegetatives Nervensystem bestimmt: Ob es sich mehr im Zustand der Spannung befindet, und wir uns entsprechend eingeengt, fremdbestimmt oder gestresst fühlen, oder ob es spannungsfrei und lax ist und wir uns dann eher frei und emanzipiert fühlen.

Es ist das natürliche Bestreben und der große Wunsch des Menschen, völlig frei und emanzipiert zu sein. Aber dies dürfte in der Wirklichkeit unmöglich sein. Zum einen geht es um die realen Lebens-Bedingungen, in denen wir leben oder leben müssen, aber nicht zuletzt um unsere subjektive psychische und physische Situation der Spannung oder Entspannung.

In diesem Kapitel untersucht Meister Nagarjuna die Lebenssituation in Freiheit oder in Restriktionen und Begrenzungen. Wichtig dabei ist das Handeln: wenn wir ganz im Augenblick handeln, ist das vegetative Nervensystem im Gleichgewicht, sodass weder das Gefühl der Restriktion noch das der freien Unbegrenztheit überwiegt. Dies ist genau der Zustand in der Zazen – Praxis, also des Samadhi in der vierten Vertiefung: Dann verschwindet der unangenehme Gegensatz von Restriktion und ausufernder Laxheit; wir sind im lebendigen Gleichgewicht, das ist der Mittlere Weg.

Vers 1
Meist wird die Aussage dieses Verses nur auf die Wiedergeburt und damit als Wandern durch das Samsara zum nächsten Leben interpretiert. Mir scheint dies viel zu eng zu sein, es kann der Bedeutung dieses ganzen Kapitels nicht gerecht werden. Daher verwende ich den Begriff „weiter gehen“ oder „durch das Leben gehen“.

Unser Verhalten im Leben ist in bestimmten Situationen nicht nur instinktiv, sondern umfasst auch Ethik, Verantwortung für uns und die Umwelt sowie das Gleichgewicht der Selbststeuerung von Körper-und-Geist.

Dies bedeutet nach buddhistischer Lehre, dass wir im Einklang mit der ganzen Welt und dem ganzen Universum sind.

Vers 2
Dieser Vers bezieht sich auf die fünf Komponenten des Menschen und der Welt (Skandhas): Materie, Sinneswahrnehmung, Denken, Handeln und Bewusstsein. Diese Komponenten dürfen wir uns aber nicht dinghaft vorstellen, sondern sie haben sowohl eine materielle und als auch eine spirituelle Dimension, beide ist eine Einheit, die sich ständig in Bewegung ist. Die Wirklichkeit der fünf Komponenten können wir im Gleichgewicht des Samadhi/Zazen beobachten, erforschen, also deren Wirklichkeit erkennen.

Wenn ein gewöhnlicher Mensch durch das Leben geht, basieren die fünf Komponenten (Skandhas) im Allgemeinen scheinbar nur auf physikalischer Materie, also auf dem Körper; aber das ist eine ganz eingeschränkte Sichtweise.

Wenn aber die fünf Komponenten (Skandhas) ganz verwirklicht sind, und dies ist eine Art von klarem und tiefem Erforschen, ist es für uns möglich, wirklich durch den Alltag zu gehen. Dies gilt für die Gegenwart und Zukunft.

Vers 3
Wenn wir keine klare Wahrnehmung und Einsicht haben, scheint es so, als ob unser Körper und Geist völlig ziellos durchs Leben geht. Wenn aber die Wahrnehmung im Gleichgewicht ist und von uns selbst gesteuert wird, so gilt dies auch für Körper und Geist. Dann überschreitet die Sinneswahrnehmung die gewöhnliche materielle und daher begrenzte sichtweise durch unsere Sinnesorgane.

Ein solcher Zustand geht über Denken und Reden hinaus, er ist die Verwirklichung an jeden Ort und zwar auch in Zukunft.

Vers 4
Wesentlich für unser Handeln ist das eigene Gleichgewicht, die Balance von Körper und Geist, denn sonst ist das Handeln ohne Sinn: Es kann sich dann nichts Wahres ereignen.

Wenn im Zustand der Wirklichkeit die Balance nicht beobachtet und wahrgenommen wird, kann sich ebenfalls nichts Wahres ereignen.

Es ist also ganz wesentlich, dass wir im Zustand des Gleichgewichts und der Balance handeln. Sonst ist es nicht möglich, irgendetwas Wichtiges und Wertvolles zu tun. Wahres Handeln ist dann unmöglich.

Vers 5
In diesem Vers geht es um die zentrale Frage der Freiheit und Bindung, Determination. Auf der rein logischen Ebene sind die beiden Konzepte von Freiheit und Determination unvereinbar. Viele Menschen und sogar Philosophen vertreten eine solche Ausschließlichkeit: Entweder sind wir danach durch die vorausgehenden Ursachen determiniert und festgelegt, dann haben wir keine Willensfreiheit. Oder unser Geist ist im idealistischen Sinne frei und entscheidet, was zu tun ist und wie es in Zukunft weitergeht.

In der Wirklichkeit dieser Welt gibt es beides, was nur in der Theorie unvereinbar erscheint, denn die Wirklichkeit der Welt ist der Augenblick. Daher ist genau in der Wirklichkeit des Augenblicks die freie Entscheidung jederzeit möglich, während in der linearen Zeit die Festlegung durch die Vergangenheit gegeben ist.

Das gilt nicht zuletzt für das Handeln: Die Dimensionen der Determination und Freiheit sind gleichzeitig wirksam.

Vers 6
In unserem normalen Leben haben wir häufig das Gefühl, begrenzt zu sein und äußeren oder inneren Restriktionen zu unterliegen. Wenn wir jedoch die Situation im gegenwärtigen Augenblick betrachten, so gibt es eigentlich weder Restriktionen noch absolute Freiheit, weil beides nur Beschreibungen und sogar Bewertungen sind. Beschreibungen sind aber niemals die Wirklichkeit selbst und Bewertungen schon gar nicht.

Was sich noch nicht manifestiert hat, kann auch nicht den Restriktionen unterliegen, weil es noch gar nicht da ist. Die Restriktionen sind dann in unserem Geist und nicht in der Wirklichkeit.

Vers 7
Die wirklichen Tatsachen existieren, bevor wir davon reden: dass etwas begrenzt ist und Restriktionen unterliegt oder nicht. Die reinen Tatsachen sind also unabhängig vom Reden und Denken. Damit eröffnet sich die wirkliche Freiheit im Augenblick.

Es handelt sich um dieselbe Situation wie im Kapitel über das Gehen: die Vorstellung und das Reden über Gehen oder die Wirklichkeit des Gehens selbst. Wir müssen also die mentale Ebene der Vorstellungen und des Denkens genau von der Wirklichkeit unterscheiden.

Vers 8
Rein logisch ist es nicht möglich, dass etwas, was schon unbegrenzt ist und keiner Restriktion unterliegt, in einem besonderen Prozess emanzipiert und befreit wird: Es ist ja bereits ohne Restriktionen.

Umgekehrt ist es im gegenwärtigen Augenblick der Wirklichkeit nicht möglich, dass starre Restriktionen sich wegen der Kürze der Zeit verändern können und zu Freiheit und Emanzipation werden.

In der Wirklichkeit gibt es also immer die Einheit von beidem, nämlich von Restriktion und Emanzipation. Es gibt nicht das Entweder-Oder.

Vers 9
Wenn die Sinnes-Wahrnehmung das Äußeren des Materiellen überwunden hat, ist dies der Zustand des Gleichgewichts und wir sind nicht auf die äußere Form fixiert.

Die wirklichen Dinge und Phänomene sind reale Tatsachen, die wir mit der Wahrnehmung erfassen können. Dies ist die große Welt, die sich vor uns als wunderbares Bild manifestiert.

Vers 10
Der Zustand der Balance in unserem Leben ist gleichzeitig das Nirvana. Es ist nicht ein jenseitiges erträumtes Paradies, sondern genau das tägliche Leben im Hier und Jetzt. Ein solches Leben im Gleichgewicht ist daher kein Gegensatz zum Nirvana und nicht etwas Anderes oder Zukünftiges.

Die Worte und unsere Sprache reichen nicht aus, um das Nirvana vollständig und erschöpfend zu beschreiben. Die Wirklichkeit geht über die Sprache hinaus. Aber selbst auf der Sprachebene ist es ganz unsinnig, ein erfülltes reales Leben im Gleichgewicht mit einem erträumten Nirvana zu vertauschen.


Dienstag, 17. September 2013

Untersuchung der subjektiven Existenz (Svabhava pariksha), Nagarjuna, MMK, Kapitel 15


Die subjektive Existenz des Menschen wird aus dem Sanskrit (Svabhava) häufig als mit Selbstnatur oder auch Selbstexistenz übersetzt. Ich verwende dafür den Begriff Idealismus, also das Weltbild und die Lebensphilosophie, die dahinter stehen: nämlich dass Denken, Ideen und Ideale als die wahre Wirklichkeit angenommen werden. Entsprechend wird das Materielle abgewertet oder sogar als unwirklich bezeichnet. Der Buddhismus geht darüber hinaus und nimmt die umfassende Wirklichkeit zur Lebensgrundlage. Das subjektive Denken in unserem Gehirn kann die Wirklichkeit meist nicht annähernd erfassen, sie ist nur ein Teil der Wirklichkeit.

Bei der Wahrnehmung der materiellen Welt mit unseren Sinnesorganen arbeitet unserer Gehirn durchaus ähnlich, denn  auch bei diese Abbildungen wird nur ein gewisser Teil der Wirklichkeit erkannt: Wir müssen uns davor hüten das, was wir sehen, hören usw. als die umfassende Realität zu verstehen. Aber gerade um diese große Realität geht es, wenn wir aus den Täuschungen des Lebens herauskommen wollen, um unsere Potentiale und Entwicklungsmöglichkeiten auszuschöpfen

Vers 1
Die totale Existenz ist die Wirklichkeit und gehört niemals zum Subjektiven. Sie wird von der Vierfachen Wahrheit gesteuert.

Die Vernunft und die Vierfache Wahrheit bilden immer eine Einheit. Dagegen kann die subjektive Existenz so verstanden werden, dass sie weitgehend künstlich durch die Menschen erzeugt wurde.

Damit greift Nagarjuna die Aussagen des ersten Kapitels des MMK auf und verweist auf die vier Grundwahrheiten: Vernunft, äußere Welt, gegenwärtiger Augenblick und Wirklichkeit.

Die Vernunft wird nicht allein durch das menschliche Gehirn erzeugt, das unsere Gedanken hervorbringt, sondern sie ist Teil der Realität der Welt und des Universums.

Vers 2
Die subjektive Existenz wird künstlich von den Menschen erzeugt und ist an unser Gehirn gebunden. Sie ist daher ein vorübergehendes Phänomen und kann nicht oder nur sehr begrenzt in die Zukunft fortwirken. Das ist beim Handeln in der Wirklichkeit anders.

Die Menschen interessieren sich allerdings für die angeblichen subjektiven Existenzen, weil diese auch von den Gehirnen andere Menschen erzeugt wurden. Sie gehören aber niemals wirklich zur realen Welt.

Vers 3
Die Sinnesreizungen werden ebenfalls im Gehirn subjektiv verarbeitet und gehören deshalb nicht zur realen Welt.

Die Sinnesreizungen sind Abbilder der materiellen Welt, der Formen, Farben, Gerüche usw. aber sie sind diese Wirklichkeit nicht selbst.

Die Informationen über die Objekte der materiellen Gegebenheiten der Welt werden im Gehirn verarbeitet und sind auch in bestimmtem Umfang mit Worten kommunizierbar. Wir können uns daher über Formen, Farben usw. unterhalten, aber diese kommunizierten Bilder sind nicht die Wirklichkeit selbst.

Vers 4
Die subjektive Existenz der Ideen und objektbezogene Existenz der Wahrnehmung müssen eine Einheit bilden, damit sie konkrete Wirklichkeit sind und nicht realitätsfremde Abstraktionen und Verzerrungen.

Das heißt die reale Welt verwirklicht sich, wenn die subjektive und objektbezogene, objektive Existenz eine Einheit bilden. Als objektive Existenz wird Wahrnehmung und Sinnesreizung bezeichnet.

Wenn die wirkliche Existenz realisiert ist, verschwinden realitätsfremde Abstraktionen und Täuschungen, denn es geht um konkrete Erfahrungen im Hier und Jetzt.

Wir können uns etwas einbilden und denken, dass etwas Unwirkliches vorhanden sei, denn denken können wir grundsätzlich alles, ob es stimmt oder nicht. Wir sollten uns aber darüber klar sein, dass Nicht-Existierendes niemals verwirklicht werden kann, auch wenn wir uns noch so anstrengen.

Das Gesetz von Ursache und Wirkung gilt ganz grundsätzlich für die Realitäten in dieser Welt, es kann nicht ausgehebelt werden. Wenn wir uns aber etwas Unwirkliches vorstellen, hat das keine Ursachen in der Wirklichkeit und ist daher ebenfalls keine Realität.

Vers 6
Nagarjuna erinnert an Gautama Buddha, der uns dringend aufgefordert hat, alles genau zu beobachten und nicht nach subjektivem Belieben oder Abneigung auszuwählen oder abzulehnen: bei Fragen der subjektiven und objektiven Existenz und auch generell bei der Frage der Existenz und der Nicht-Existenz.

Besonders eine subjektive Beliebigkeit, nämlich das anzunehmen und zu unterstützen, was uns gefällt, ist nicht die Lebensphilosophie des Mittleren Weges.

Vers 7
Katyayana war ein wichtiger Schüler Gautama Buddhas. Er hatte eine sehr kritische Einstellung zu langwierigen Diskussionen über Existenz oder Nicht-Existenz.

Derartige abstrakte Diskussionen waren für ihn überflüssig und führten vom Eigentlichen des Buddhismus weg. Sie seien weitgehend sinnlos und nicht von hohem Niveau.

Vers 8
In diesem Vers geht es um die Wirklichkeit, das Dasein, also die wirkliche Existenz in der Welt. Dabei ist es unmöglich, dass irgendeine Tatsache nicht wirklich ist.

Ideen, Gedanken und Bilder sind nicht die Wirklichkeit selbst, sondern nur Abbild und Ersatz für sie. Wir sollten sie auf keinen Fall mit der Wirklichkeit verwechseln.

Vers 9
Wenn alles in unserem Leben die authentische Wahrheit behält, benötigen wir keinen Ersatz für das Wahre, z. B. keine Ideologien und keine fadenscheinigen Heilslehren. Denn ein solcher Ersatz ist schlicht und einfach unwahr.

Umgekehrt kann etwas Wahres, auf keinen Fall ein Ersatz sein für etwas Unwahres sein. Dies kann man auch so verstehen, dass Erleuchtung und Wirklichkeit übereinstimmen und dass durch die Erleuchtung die Wirklichkeit nicht neu erzeugt wird: Erleuchtung und Wirklichkeit sind identisch. Durch die Erleuchtung ändert sich die ursprüngliche Wahrheit also nicht.

Vers 10
Wenn wir an einen unveränderlichen und festen, ewigen Kern der Wirklichkeit glauben, widerspricht das der Augenblicklichkeit und Veränderung der Realität. Eine Augenblicklichkeit kann es gar nicht geben, wenn etwas unveränderlich ist.


In der Wirklichkeit sind Konkretes und Abstraktes immer zu einer Einheit verschmolzen. Aber diese Wirklichkeit ist von großer Komplexität und daher nicht immer mit dem Verstand präzise erkennbar. Trotzdem ist die Wirklichkeit eine einfache Tatsache: wenn sie durch Emotionen, Erregungen und sonstige Ideen und Vorstellungen verzerrt ist, erscheint sie uns unscharf und verschwommen.

Mittwoch, 11. September 2013

Untersuchung der Einheit und Verschmelzung (Samsarga pariksha), Nagarjuna, MMK, Kapitel 14


 Genau im Augenblick gibt es den Vorgang des Handelns selbst, während Überlegungen, unterscheidendes Denken, abstrakte Vorstellungen, Beschreibungen usw. erst danach in unserem Gehirn entstehen können. Im Augenblick des Handels selbst gibt es also ein Einssein und eine Verschmelzung von Körper-und-Geist, wobei der einfache Vorgang des Handelns im Mittelpunkt steht.

Wir können uns dies am Beispiel eines Balles verdeutlichen, den wir werfen: Wenn wir den Ballwurf ausführen, haben wir zwar ein gewisses mitlaufendes Bewusstsein, aber der Vorgang selbst ist eine verschmolzene Einheit von Köper-und-Geist, eine Unterteilung in abstrakte Ideen, beabsichtigte Ziele und dergleichen gibt es noch nicht. Der Vorgang läuft mit Körper-Intelligenz und intuitiver Klarheit einfach ab, und wenn die intuitive Klarheit im Augenblick wirksam ist, wir also vorher trainiert haben, passt alles zusammen. Wenn wir einem Ballwurf zuschauen, ruft dies sicher auch Assoziationen und Gedanken in uns hervor und wir haben vielleicht auch eine Vorstellung von dem Prozessablauf: wie sich der Ball bewegen wird, welche Flugbahn er also vollzieht usw.. Vorstellungen des zeitlichen Prozessablaufes, visuelle und sonstige Wahrnehmungen, Vergleiche mit anderen Würfen und auch emotionale Bindungen wie Hoffnungen, dass der Ball vielleicht das Ziel treffen wird usw. sind alle sekundär und im Augenblick des Wurfes nicht vom Handeln getrennt, sie sind mit dem Handeln verschmolzen

Abstrakte Vorstellungen und auch Bezeichnungen für das Handeln sind sekundär und nicht das Handeln selbst. Dasselbe gilt für Bilder und Absichten.

Im Buddhismus gehen wir davon aus, dass Handeln und alle übrigen abstrakten oder bildhaften Bereiche zu einer Einheit verschmolzen sind. Es ist auch nicht so, dass sie zunächst getrennt sind und sich dann später verbinden. Auch das Trasining verläuft in der verschmolzenen Einheit.

Vers 1
Wenn ein Mensch etwas sieht, scheint es drei Bereiche zu geben: das Objekt, das gesehen wird, der Mensch der sieht und der Vorgang des Sehens selbst. Diese Bereiche haben jeweils unterschiedliche Charakteristika, sodass wir sie häufig als verschieden verstehen und wahrnehmen. Vielleicht konzentrieren wir uns auch nur auf einen bestimmten Bereich z.B. den Menschen, wenn er etwas unternimmt oder handelt.

Verschmelzung bedeutet jedoch, dass die drei Bereiche Objekt, sehen und Mensch eine Einheit bilden und auch niemals getrennt waren.

Vers 2
Wirkliche Anregungen, die Bedingungen und Ursachen der Anregungen und der Vorgang angeregt zu sein, sind mit Freude verbunden.

Wenn wir aber von den Erregungen abhängig sind, leiden wir jedoch oft z.B. weil wir befürchten, dass die Freude und positive Erregung zu Ende gehen und ins Gegenteil umschlagen. Aber es gibt verschiedene Möglichkeiten und Orte, die frei von solchen Leiden und Schmerzen sind. Im Buddhismus wird vor allem die Meditation, also der Samadhi in den vier Vertiefungen gelehrt. Im Zen-Buddhismus ist dies die Praxis des Zazen, die vierte Vertiefung.

Vers 3
Die von Nagarjuna beschriebene Einsheit und Verschmelzung sind nicht von irgendetwas anderem abhängig. Also gehört die Verschmelzung und auch nicht zu etwas anderem.

Die Wirklichkeit ist genauso wie sie ist, direkt vor uns, und es gibt keine Trennung in verschiedene Bereiche. Eine Trennung ist auch in Zukunft unmöglich, wenn wir irgendwelche Veränderungen unterstellen.

Vers 4
Die Wirklichkeit existiert nur im Augenblick und nicht in der linearen Zeit, mit der wir verschiedene Zustände vergleichen können. Derartige Vergleiche sind aber mentale Vorgänge im Gehirn und nicht die Wirklichkeit selbst. Bei der Wahrnehmung im Augenblick gibt es also keine Änderung, dazu ist der Augenblick zu kurz.

Diese Welt ist schön und von tiefer Wahrheit durchdrungen. Die Dinge und Phänomene existieren genauso wie sie sind, und im Augenblick gibt es keine Abweichungen von ihrer ursprünglichen Form.

Vers 5
Der Unterschied zwischen einer bestimmten Sache und einer anderen Sache ist sehr klar. Auch wenn bestimmte Dinge und Phänomene unklar sind, sind sie sich selbst gleich. Sie haben nicht unterschiedliche Charakteristika. Sie manifestieren sich niemals als von sich selbst verschieden, sie sind die direkte Wirklichkeit

Vers 6
Es ist nicht möglich den Unterschied zwischen den Dingen zu überwinden. Jeweils zwei Dinge sind daher unterschieden und ein solcher Unterschied lässt sich nicht aufheben.

Wir definieren die Dinge, indem wir ihre Charakteristika von anderen unterscheiden. Nagarjuna benutzt diese Ausgangslage, um zu beweisen, dass die Einheit, die im Buddhismus gelehrt wird nicht dadurch zustande kommt, dass getrennte Dinge zusammengefügt oder zusammengedacht werden. Die Einheit einer Sache ist ursprünglich und wird nicht im Nachhinein erwirkt.

Vers 7
In einer einzigen Sache kann es keinen Unterschied in sich geben, weil Unterschiede immer zwischen verschiedenen Dingen und Sachen bestehen.

Die von Nagarjuna beschriebene Verschmelzung ist die Wirklichkeit selbst und nicht nur eine Vorstellung oder Einbildung.

Wenn wir annehmen, es gibt überhaupt keine Existenz und Wirklichkeit in der Welt, ist es dasselbe, als wenn wir nur in Abstraktionen denken und leben. Dann gibt es auch nicht die Einheit, die hier als Verschmelzung bezeichnet wird.

Vers 8
Die wirkliche Verschmelzung und Einheit sind die grundlegende Situation aller Dinge und Phänomene in dieser Welt. Aber die Einheit basiert nicht auf subjektiveb Dingen und Phänomenen und ist auch nicht in ihnen enthalten.

Verschmelzung und Einheit basiert nicht auf etwas, was subjektiv davon unterschieden ist. Die Verschmelzung kann niemals mit etwas kombiniert werden, das nicht verschmolzen ist.

Verschmelzung ist also keine Ansammlung von Dingen und Phänomenen, die zusammengebracht werden. Verschmelzung und nicht Verschmolzenes können auch nicht im Wettstreit oder im Kampf miteinander sein.


Dôgen betont dies, weil die Einheit und Verschmelzung die Wirklichkeit selbst ist. Sie ist im Augenblick des Handelns wirksam

Sonntag, 11. August 2013

Untersuchung des wirklichen Handelns (Samskara parikasha) Nagarjuna, MMK, Kapitel 13



Nach dem buddhistischen Weltbild gliedert sich das Universum und insbesondere der Mensch in fünf Komponenten die in Sanskrit Skanda heißen: 1. Materie, 2. Sinneswahrnehmung, 3. Denken, 4. Handeln und 5. Bewusstsein. Samskara oder das wirkliche Handeln im höchsten Zustand des Menschen ist also das vierte Skanda.

In Chinesisch und Japanisch wird Samskara durch ein Zeichen repräsentiert, das Handeln oder Tun bedeutet. Ähnliches ist in dem Wörterbuch Sanskrit – Englisch von Monier – Williams aufgeführt, nämlich zusammenfügen, gut formen, perfekt machen, vervollständigen, schmücken, reinigen, fertigmachen, vorbereiten, usw.

Damit wird deutlich, dass dieser Begriff ganz eng mit dem wirklichen Handeln zusammenhängt. Er unterscheidet sich damit von abstrakten Vorstellungen und Konzepten oder einem losgelösten Geist. In diesem Kapitel geht es um den Zusammenhang der subjektiven Existenz mit den vielfältigen Gegebenheiten der Dinge und Phänomene und mit dem augenblicklichen Handeln in der wirklichen Welt im gegenwärtigen Augenblick.

Das wirkliche Handeln kann man als Schnittstelle zwischen der subjektiven Existenz und der heterogenen Welt verstehen. Und das wirkliche Handeln in der Realität kann sich nur vollziehen, wenn wir im Gleichgewicht des Mittleren Weges sind.

Ich habe daher den Begriff „wirkliches Handeln“ als Übersetzung für das Wort Samskara gewählt. Für mich ist damit das wirkliche Handeln in der wirklichen Welt im gegenwärtigen Augenblick bezeichnet.

Vers 1
Wenn in einer Gesellschaft oder Gruppe Täuschungen und Betrug normal sind, ist die Wirklichkeit oder Wahrheit bedeutungslos geworden, und es gibt keinen Platz für Wahres, Heilige und Erleuchtete.

In einer solchen Welt ist es nicht bedeutungsvoll, das Leben auf der Wirklichkeit aufzubauen und nach der Wahrheit zu leben.

Vers 2
In einer Welt der Täuschung und des Betruges ist alles Wesentliche verschwunden. Im Gegensatz dazu hat Gautama Buddha ein Leben im ruhigen Gleichgewicht gelehrt. Er wird hier bei Nagarjuna als Heiliger bezeichnet.

Ich habe den Sanskrit - Begriff Shunyata als Gleichgewichtszustand übersetzt. Denn die üblichen Begriffe wie Leerheit oder Leere, die im Westen häufig benutzt werden, sind eher irreführend. Denn es geht nicht um das Nichts, sondern gerade um die Wirklichkeit der Welt und des Lebens. Shunyata bezieht sich also auf eine Welt, die nicht durch Ideologien oder sinnliche täuschende Wahrnehmungen sowie Emotionen verdeckt und verzerrt ist, sodass für mich der Begriff Zustand des Gleichgewichts besser geeignet erscheint.

Vers 3
Unsere subjektiven Gedanken sind weitgehend getrennt von der Realität und nicht an sie gebunden. Wenn uns das klar ist, können wir erkennen, dass die wirkliche Welt sich direkt vor uns manifestiert. Dadurch ist wahres Sehen erst möglich, das sich von der Subjektivität unterscheidet.

Ein solcher Zustand in der sich bewegenden Welt ist im Gleichgewicht und durch das Wort Shunyata gekennzeichnet.

Vers 4
Alle Abstraktionen vollziehen sich in unserem Gehirn und werden oft durch Begriffe gekennzeichnet, die ebenfalls abstrakte Inhalte haben. Beispiele sind: Gerechtigkeit, Frieden, Erleuchtung und auch Liebe, wir nehmen oft mehr oder minder bewusst an, dass sie unabhängig vom konkreten Handeln sind.

Aber solche Abstraktionen sind nicht die Wirklichkeit denn sie bestehen aus Gedanken, Ideen und Worten.

Wenn wir ganz von solchen mentalen Abstraktionen ausgefüllt sind, fragt es sich, wo die wirkliche Welt existiert.

Vers 5
Eine isolierte abstrakte Welt ist in der Wirklichkeit nicht vorhanden und die wirkliche Welt ist auch nicht an Abstraktionen gebunden.

Wenn sich also abstrakte Ideen und Ideologien selbständig machen und von der Wirklichkeit ablösen, so leben wir in einer Scheinwelt, die oft genug in Katastrophen führt, wie z.B. der faschistische Imperialismus.

Wenn wir den gegenwärtigen Augenblick als die einzige reale Zeit annehmen, gibt es kein Älterwerden und kein Siechtum zum Tode. In dem ganz kurzen Augenblick kann es auch keine Änderung und keinen Wandel geben, weil die Zeit zu kurz ist.

Vers 6
In diesem Kapitel geht es um die Wirklichkeit der Dinge und Phänomene im jeweiligen Augenblick, die für sich da sind. Nagarjuna wählt das Beispiel von Milch und Joghurt, der aus der Milch gewonnen wird. Milch und Joghurt sind jeweils eine eigene Wirklichkeit.

Da wir gedanklich den Prozess der Joghurt-Herstellung aus der Milch kennen, neigen wir dazu zu sagen, dass der Joghurt aus der Milch entstanden ist und dass er daher in der Milch vorher bereits vorhanden gewesen sein muss. Dies ist jedoch ein gedachter Zusammenhang im zeitlichen Ablauf.

In der Wirklichkeit des Augenblicks existiert beides jeweils für sich. Die Verbindung wird durch das Denken hergestellt und ist damit nicht mehr Wirklichkeit.

Der Zen – Meister Dôgen verwendet in dem Kapitel der Sein – Zeit das alte indische Beispiel von Feuerholz und Asche und interpretiert es neu: Wenn das Feuerholz vollständig verbrannt ist, wird es aus unserer Erfahrung zu Asche, aber dieser Zusammenhang wird durch das Denken hergestellt. Dôgen sagt, dass das Feuerholz eine eigene Wirklichkeit im Augenblick hat und dass die Asche etwas anderes in einem anderen Augenblick ist.

Vers 7
Wenn es nur ein kleines Ungleichgewicht gibt, kann das Gleichgewicht selbstverständlich niemals existieren. Wenn wir daher nicht im Gleichgewicht sind, können wir die großartige Erfahrung dieses Gleichgewichts von uns selbst und der Welt nicht erleben. Im unbalancierten Zustand können wir also niemals das Gleichgewicht verwirklichen und erfahren.
Das Gleichgewicht ist auch in Zukunft unmöglich.

Vers 8
Der Zustand im Gleichgewicht ist die Grundlage intuitiver Entscheidungen und klaren intuitiven Wissens. Dies wurde von den großen Meistern und Heiligen gelehrt.

Sie sagten, dass der Zustand im Gleichgewicht die ewige Wahrheit selbst ist, also die klare Sicht und das Verständnis dieser wirklichen Welt.


Samstag, 3. August 2013

Untersuchung des Leidens (Dukkha pariksha) Nagarjuna, MMK, Kapitel 12


Der Begriff des Leidens hat ein weites Spektrum von Bedeutungen. Er bezeichnet zum einen physisches Leiden z.B. körperliche Schmerzen bei Verletzungen oder Krankheiten oder sogar absichtlich zugefügte Schmerzen bei der Folter.

Besonders in der modernen westlichen Welt gibt es jedoch sehr schwere psychische Schmerzen, die eigentlich keine körperliche Ursache haben. Sie können durch den Stress, die ruhelose Hektik des modernen Menschen entstehen oder durch übergroße Sensibilität und oft unerklärbare Ängste vor Gefahren, die kaum konkret bestimmt werden können.

Besonders dieser zweite Typ von seelisch-psychischem Leiden und großen Schmerzen kann gewaltige negative Kräfte entwickeln, die für den leidenden Menschen an die Grenzen des Ertragbaren gehen können. Für einen Außenstehenden ist es oft kaum nachvollziehbar, warum diese psychischen Leiden so virulent sind.

Der Mittler Weg ist wesentlich mit der einzigartigen Praxis des Zazen also des Samâdhi im frühen Buddhismus und den Sûtras Gautama Buddhas verknüpft. Wer das Gleichgewicht des der Zen-Meditation realisiert, kann sein Leiden im Leben ganz wesentlich verringern. Schon Gautama Buddha hat mit dem Weg der Vier Edlen Wahrheiten die klare Richtung vorgezeichnet, wie das Leiden erkannt, lokalisiert und überwunden werden kann. Darin liegt nicht zuletzt die große Kraft des Buddhismus. Dieser Weg ist sehr konkret und eigentlich eher therapeutisch und nüchtern. Er ist frei von Mystifizierungen und magischen Täuschungen und Beschwörungen.

Vers 1
Das Verhalten von uns selbst und auch von anderen, nicht zuletzt auch das gemeinsame Handeln, ist nicht immer vernünftig und logisch.

Bei dem Wort Leiden ist wichtig, dass es sehr verschiedene Bedeutungen und eine große semantische Bandbreite hat. Es gibt also sehr viel verschiedene Arten von Leiden.

Vers 2
Wenn wir in der Welt der subjektiven Ideen und Behauptungen versunken sind, ist es schwer, dass sich die Dinge und Phänomene des Lebens klar und eindeutig zeigen. Wir werden durch die verschiedenartigsten Ideen und Emotionen verwirrt und haben keine Klarheit.

Unabhängig davon ist es in der buddhistischen Lehre Nagarjunas völlig unbestritten, dass es die Wirklichkeit in dieser Welt gibt, dass die Dinge und Phänomene sich real vor uns befinden und dass die Komponenten des Menschen (skandas) wirklich existieren.

Vers 3
In den östlichen und westlichen Philosophien wird oft von einem umwandelbaren isolierten Kern des Menschen ausgegangen. Dies ist weitgehend bei der Theorie der Seele im Christentum und des Atman der alten indischen Religionen der Fall. Nagarjuna lehnt wie Gautama Buddha eine solche Theorie grundsätzlich ab.

Leiden entsteht nicht zuletzt daraus, dass das Handeln und der Mensch als getrennt angesehen werden und aus dieser Trennung bei ihm selbst oder bei anderen Leiden erzeugt wird.

Leiden entsteht vor allem aus Unklarheit, um nicht zu sagen Illusionen der Absicht beim Handeln. Im Buddhismus ist aber das Handeln die Grundlage des Lebens überhaupt und es kann keine Trennung von Handeln und Mensch geben.

Vers 4
In diesem Vers geht es um die Ursache und Verantwortung des Leidens. Wenn wir als Menschen selbst das Leiden erzeugen, müssen wir dafür die Verantwortung tragen, denn das Leiden ist weitgehend von uns selbst erzeugt und ohne diese Erzeugung wäre es gar nicht in der Welt.

Wichtig ist dieser Grundsatz auch, wenn wir nur zu einem Teil die Ursache des Leidens sind. Auch dann müssen wir die volle Verantwortung für diesen Teil tragen. Dabei ist wichtig, dass das indische Wort für Leiden, Dukkha, semantisch eine allgemeinere Bedeutung als Leiden in unserem Sinne hat, es umfasst auch unerfreuliche und aversive Situationen, also nicht nur Leiden im engeren Sinne.

Vers 5
Das Leiden wird oft von unserem denkenden Geist selbst erzeugt und nicht von einem anderen Menschen, wie wir vielleicht gerne glauben. Dies gilt z.B. bei psychische Verletzungen, Unfairness, Illoyalität, Verrat usw.

Physisches Leiden müssen wir aushalten, denn wir können oft nicht davor fliehen. Wenn wir das Leiden aber als einfache Tatsache nehmen, ist es immer leichter zu ertragen, als wenn wir es emotional und im denkenden Geist verstärken und uns z.B. als leidendes Opfer wegen der Ungerechtigkeit der Welt empfinden.

Vers 6
Nagarjuna vertieft den Zusammenhang der Ursache und Verantwortung des Leidens, die angeblich von anderen erzeugt werden. Zunächst stellt er die Frage, was ein Mensch überhaupt ist, dass wir nämlich eine vereinfachte Vorstellung von ihm haben. In Wirklichkeit geht es um einzelnes sehr konkretes Handeln, das uns vielleicht krängt und verletzt; es verursacht in unserem Geist und unserer Psyche das Leiden.

Leiden ist meist durch emotionale Übertreibung gekennzeichnet, die oft sogar ins Extrem geht. Durch die Übertreibung selbst, die weit über die konkrete Handlung hinausgeht, entstehen meist erst der große Schmerz und das Leiden. Gleichzeitig neigen wir dazu, anderen die Verantwortung dafür zuzuschieben.

Vers 7
Häufig leiden wir darunter, dass wir die eigenen Ziele nicht erreichen und unsere Aufgaben nicht erfolgreich erfüllen können. Dann neigen wir dazu, anderen die Schuld zu geben, dass wir nicht richtig handeln konnten. Eine solche Schuldzuweisung ist oft falsch und einseitig. Sie bewirkt, dass wir unnötig leiden und uns missbraucht fühlen.

Es kann sogar sein, dass der ein anderer die Verantwortung und Schuld auf sich nimmt, aber dies bedeutet nicht, dass wir frei von eigener Verantwortung sind. Im Gegenteil: häufig sind wir selbst der auslöser für das Handeln des Anderen. Auch dadurch bringen wir uns in eine Zwangssituation, die unangenehm ist, und es nützt auch nichts, dass wir uns moralisch dabei überlegen fühlen, wir leiden trotzdem.

Vers 8
Das Leiden wird überwiegend von uns selbst erzeugt und nicht von jemand anderen. Dann können wir nicht sagen, dass das Leiden von außerhalb kommt und eine Eigenständigkeit hat, wie eine Entität.

Oft unterstellen wir bei dem anderen böse Absicht und gerade dadurch entsteht psychisches Leiden. Das ist aber meistens nicht der Fall, sodass wir den anderen Menschen auch nicht verantwortlich machen können.

Vers 9
Sogar wenn das Leiden nachweislich sowohl durch den Anderen als auch durch uns selbst erzeugt wurde, muss festgestellt werden, dass jeder selbständig handelt, weil die Handlung keine eigenständige Entität ist. Maßgeblich ist das Handeln selbst.

Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass Leiden eine emotional gesteuerte Interpretation des Handelns ist. Dadurch sind wir für unser Leiden verantwortlich, da wir diese Interpretation selbst vornehmen.

Vers 10
Nach der buddhistischen Lehre gibt es u. a. die vier Arten des Leidens: Geburt, Alter, Krankheit und Tod. Dies sind aber Abstraktionen und sie sind eigentlich jeweils Handeln im Augenblick. Als abstrakte Entitäten gibt es sie also nicht.

Diese vier Arten des Leidens sind also Vorstellungen und Konventionen aber sie sind nicht die Wirklichkeit selbst.