Der
Begriff des Leidens hat ein weites Spektrum von Bedeutungen. Er bezeichnet zum
einen physisches Leiden z.B. körperliche Schmerzen bei Verletzungen oder
Krankheiten oder sogar absichtlich zugefügte Schmerzen bei der Folter.
Besonders
in der modernen westlichen Welt gibt es jedoch sehr schwere psychische
Schmerzen, die eigentlich keine körperliche Ursache haben. Sie können durch den
Stress, die ruhelose Hektik des modernen Menschen entstehen oder durch
übergroße Sensibilität und oft unerklärbare Ängste vor Gefahren, die kaum
konkret bestimmt werden können.
Besonders
dieser zweite Typ von seelisch-psychischem Leiden und großen Schmerzen kann
gewaltige negative Kräfte entwickeln, die für den leidenden Menschen an die
Grenzen des Ertragbaren gehen können. Für einen Außenstehenden ist es oft kaum
nachvollziehbar, warum diese psychischen Leiden so virulent sind.
Der
Mittler Weg ist wesentlich mit der einzigartigen Praxis des Zazen also des
Samâdhi im frühen Buddhismus und den Sûtras Gautama Buddhas verknüpft. Wer das
Gleichgewicht des der Zen-Meditation realisiert, kann sein Leiden im Leben ganz
wesentlich verringern. Schon Gautama Buddha hat mit dem Weg der Vier Edlen Wahrheiten die klare Richtung
vorgezeichnet, wie das Leiden erkannt, lokalisiert und überwunden werden kann.
Darin liegt nicht zuletzt die große Kraft des Buddhismus. Dieser Weg ist sehr
konkret und eigentlich eher therapeutisch und nüchtern. Er ist frei von
Mystifizierungen und magischen Täuschungen und Beschwörungen.
Vers
1
Das
Verhalten von uns selbst und auch von anderen, nicht zuletzt auch das
gemeinsame Handeln, ist nicht immer
vernünftig und logisch.
Bei
dem Wort Leiden ist wichtig, dass es sehr verschiedene Bedeutungen und eine
große semantische Bandbreite hat. Es gibt also sehr viel verschiedene Arten von
Leiden.
Vers
2
Wenn
wir in der Welt der subjektiven Ideen und Behauptungen versunken sind, ist es
schwer, dass sich die Dinge und Phänomene des Lebens klar und eindeutig zeigen.
Wir werden durch die verschiedenartigsten Ideen und Emotionen verwirrt und
haben keine Klarheit.
Unabhängig
davon ist es in der buddhistischen Lehre Nagarjunas völlig unbestritten, dass
es die Wirklichkeit in dieser Welt gibt, dass die Dinge und Phänomene sich real
vor uns befinden und dass die Komponenten des Menschen (skandas) wirklich
existieren.
Vers
3
In
den östlichen und westlichen Philosophien wird oft von einem umwandelbaren isolierten
Kern des Menschen ausgegangen. Dies ist weitgehend bei der Theorie der Seele im
Christentum und des Atman der alten
indischen Religionen der Fall. Nagarjuna lehnt wie Gautama Buddha eine solche
Theorie grundsätzlich ab.
Leiden
entsteht nicht zuletzt daraus, dass das Handeln
und der Mensch als getrennt angesehen werden und aus dieser Trennung bei ihm
selbst oder bei anderen Leiden erzeugt wird.
Leiden
entsteht vor allem aus Unklarheit, um
nicht zu sagen Illusionen der Absicht
beim Handeln. Im Buddhismus ist aber das Handeln die Grundlage des Lebens überhaupt
und es kann keine Trennung von Handeln und Mensch geben.
Vers
4
In
diesem Vers geht es um die Ursache und Verantwortung des Leidens. Wenn wir als
Menschen selbst das Leiden erzeugen, müssen wir dafür die Verantwortung tragen,
denn das Leiden ist weitgehend von uns selbst erzeugt und ohne diese Erzeugung
wäre es gar nicht in der Welt.
Wichtig
ist dieser Grundsatz auch, wenn wir nur zu einem Teil die Ursache des Leidens
sind. Auch dann müssen wir die volle Verantwortung für diesen Teil tragen.
Dabei ist wichtig, dass das indische Wort für Leiden, Dukkha, semantisch eine allgemeinere Bedeutung als Leiden in
unserem Sinne hat, es umfasst auch unerfreuliche und aversive Situationen, also
nicht nur Leiden im engeren Sinne.
Vers
5
Das
Leiden wird oft von unserem denkenden Geist selbst erzeugt und nicht von einem
anderen Menschen, wie wir vielleicht gerne glauben. Dies gilt z.B. bei psychische
Verletzungen, Unfairness, Illoyalität, Verrat usw.
Physisches
Leiden müssen wir aushalten, denn wir können oft nicht davor fliehen. Wenn wir
das Leiden aber als einfache Tatsache nehmen, ist es immer leichter zu
ertragen, als wenn wir es emotional und im denkenden Geist verstärken und uns
z.B. als leidendes Opfer wegen der Ungerechtigkeit der Welt empfinden.
Vers
6
Nagarjuna
vertieft den Zusammenhang der Ursache und Verantwortung des Leidens, die
angeblich von anderen erzeugt werden. Zunächst stellt er die Frage, was ein
Mensch überhaupt ist, dass wir nämlich eine vereinfachte Vorstellung von ihm
haben. In Wirklichkeit geht es um einzelnes sehr konkretes Handeln, das uns
vielleicht krängt und verletzt; es verursacht in unserem Geist und unserer
Psyche das Leiden.
Leiden
ist meist durch emotionale Übertreibung gekennzeichnet, die oft sogar ins
Extrem geht. Durch die Übertreibung selbst, die weit über die konkrete Handlung
hinausgeht, entstehen meist erst der große Schmerz und das Leiden. Gleichzeitig
neigen wir dazu, anderen die Verantwortung dafür zuzuschieben.
Vers
7
Häufig
leiden wir darunter, dass wir die eigenen Ziele nicht erreichen und unsere
Aufgaben nicht erfolgreich erfüllen können. Dann neigen wir dazu, anderen die
Schuld zu geben, dass wir nicht richtig handeln konnten. Eine solche
Schuldzuweisung ist oft falsch und einseitig. Sie bewirkt, dass wir unnötig leiden
und uns missbraucht fühlen.
Es
kann sogar sein, dass der ein anderer die Verantwortung und Schuld auf sich
nimmt, aber dies bedeutet nicht, dass wir frei von eigener Verantwortung sind.
Im Gegenteil: häufig sind wir selbst der auslöser für das Handeln des Anderen.
Auch dadurch bringen wir uns in eine Zwangssituation, die unangenehm ist, und
es nützt auch nichts, dass wir uns moralisch
dabei überlegen fühlen, wir leiden trotzdem.
Vers
8
Das
Leiden wird überwiegend von uns selbst erzeugt und nicht von jemand anderen.
Dann können wir nicht sagen, dass das Leiden von außerhalb kommt und eine
Eigenständigkeit hat, wie eine Entität.
Oft
unterstellen wir bei dem anderen böse Absicht und gerade dadurch entsteht
psychisches Leiden. Das ist aber meistens nicht der Fall, sodass wir den
anderen Menschen auch nicht verantwortlich machen können.
Vers
9
Sogar
wenn das Leiden nachweislich sowohl durch den Anderen als auch durch uns selbst
erzeugt wurde, muss festgestellt werden, dass jeder selbständig handelt, weil
die Handlung keine eigenständige Entität ist. Maßgeblich ist das Handeln selbst.
Von
zentraler Bedeutung ist dabei, dass Leiden eine emotional gesteuerte Interpretation des Handelns ist. Dadurch
sind wir für unser Leiden verantwortlich, da wir diese Interpretation selbst vornehmen.
Vers
10
Nach
der buddhistischen Lehre gibt es u. a. die vier Arten des Leidens: Geburt,
Alter, Krankheit und Tod. Dies sind aber Abstraktionen und sie sind eigentlich jeweils
Handeln im Augenblick. Als abstrakte Entitäten gibt es sie also nicht.
Diese
vier Arten des Leidens sind also Vorstellungen und Konventionen aber sie sind
nicht die Wirklichkeit selbst.
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