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Meister Nishijima praktiziert Buddhismus seit über 60 Jahren. Er war Schüler von Meister Kodo Sawaki, einem japanischen umherziehenden Priester, der berühmt dafür war unermüdlich zu betonen, dass die Praxis des Zazen ihren richtigen zentralen Platz im Buddhismus erhält und der selbst intensiv praktizierte. Meister Nishijima wurde von Meister Renpo Niwa als Priester ordiniert, der später als Abt den Zentraltempel des Soto-Buddhismus leitete. Nishijima Roshi hat viele Bücher über Buddhismus u.a. von Dogen sowohl in Japanisch als auch in Englisch geschrieben. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren hat er in Japanisch und Englisch viele Vorträge gehalten, Seminare und Sesshins geleitet sowie genaue Anweisungen zum Buddhismus und vor allem zum Zazen gegeben. Deutsche Fassung: Yudo J. Seggelke

Montag, 27. Mai 2013

Untersuchung der Erregung und des Erregten, sowie dessen Einheit. (Ragarakta Pariksha), Nagarjuna, MMK, Kapitel 6


In diesem Kapitel geht es um die Reize und Stimuli durch die Außenwelt des Menschen, die unsere Sinnesorgane anregen und zu bestimmten mehr oder minder starken Reaktionen führen. Diese lösen nicht im Menschen zuletzt starke Emotionen und Affekte aus.

Das Sanskrit-Wort raga hat einen breiten semantischen Umfang: die Basisbedeutung ist färben, insbesondere mit roter Farbe, und entflammen, weiter: Gefühle und Leidenschaft, Liebe und nicht zuletzt starke sexuelle Begierde. Es geht also um starke und sehr starke Gefühle und nicht zuletzt um Abhängigkeiten und Anhaften durch Reize, die wir von außen aufnehmen und die uns dann in mehr oder minder starkem Umfang steuern und von denen wir abhängig werden.
Damit sind wir bei einem zentralen Thema des Buddhismus angekommen: Gier, Hass und Verblendung sind die drei wesentlichen von Gautama Buddha gelehrten psychisch-geistigen Gifte, die das menschliche Leben wesentlich beeinträchtigen oder sogar zerstören.

Wer von Gier und Sucht abhängig ist, die von sinnlichen Reizen ausgehen, ist nicht mehr im Gleichgewicht und hat den Mittleren Weg verlassen. Im alten Indien wurde das Wort raga nicht zuletzt für sinnliche Liebe, starke sexuelle Anziehung und auch für sexuelle Abhängigkeit verwendet.

Nagarjuna untersucht in diesem Kapitel tiefgründig die sinnlichen Reize, die uns über die Sinnesorgane von der Außenwelt erreichen. Dabei geht es nicht um Banalitäten und Amüsement, sondern um Grundsatzfragen der sinnlichen Reize, die auch sehr feiner Natur sein können: z.B. wenn wir Musik hören, ein Bild oder eine Skulptur in uns aufnehmen, schöne Gerüche empfinden oder sehr schmackhaftes Essen zu uns nehmen.

Zweifellos haben wir den Eindruck, dass es sich bei diesen sinnlichen Reizen um etwas Wirkliches handelt. Aber wir wissen auch, dass es sich bei genauerer Überlegung nicht immer um die Wirklichkeit der Außenwelt handelt, denn die Emotionen entstehen in uns selbst.

Keinesfalls dürfen wir die sinnliche Wahrnehmung jedoch gering schätzen, denn sie hat in unserem Leben eine sehr hohe Bedeutung und ist ein starkes Zeichen gerade der Realität der Welt, z.B. um idealistische Illusionen und Täuschungen zu durchschauen. Wichtig für Nagarjuna ist dabei, dass wir selbst oft diese Reize geistig und psychisch interpretieren, einordnen und bewerten, auch wenn wir dies häufig unbewusst tun. Ich bin fest davon überzeugt, dass die sinnliche Wahrnehmung im Zustand des Gleichgewichts ein zentrales Anliegen der frühen Lehren des Buddhismus ist.

Materialistisch orientierte Menschen verstehen die Signale der Wahrnehmung als Erkennen der objektiven Tatsachen und der Wirklichkeit. Das ist nicht die ganze Wahrheit. Wenn aber materialistische und idealistische Lebensphilosophien im Gleichgewicht sind, haben wir die Chance die Wirklichkeit zu erfahren. Das ist der Mittlere Weg.

Nagarjuna untersucht hier die Frage der Reize sowohl als abstrakte Überlegung als auch konkret auf den Menschen bezogen, der gereizt wird. Beide Bereiche, nämlich die abstrakte Vorstellung und der konkrete Zustand der Sinnesreize, sind nach Nagarjuna eine unauflösbare Einheit.

Vers 1
Der konkrete Zustand der Sinnesreize existiert vor der abstrakten Vorstellung und der Idee der Sinnesreize.

Dieser konkrete Zustand der Sinnesreize ist ganz klar vorhanden und ist der gereizte Zustand. Die reinen Sinnesreize, die nicht bewertet sind und keine starken Emotionen oder Begierden auslösen, sind genau so, wie sie wirklich sind. Sie haben eine eigene, unmittelbare (und oft blitzschnelle) Wirklichkeit.

Vers 2
Wann und wie ist es überhaupt möglich, dass die Emotionen der direkten Sinnesreizungen (im Menschen) nicht der konkrete Zustand der Wirklichkeit sind?
Wirkliche Situationen ereignen sich in Zusammenhängen und Umständen, die (von Natur aus) alle im Gleichgewicht und stabil sind. Dies gilt (auch) für die konkreten und abstrakten Fälle der Sinnesreizungen.

Gerade und vor allem konkrete Sinnesempfindungen wie Schmerz oder ein lauter Ausruf haben die große Kraft, illusionäre Gedankengespinste mit einem Schlag zu vertreiben und den direkten Zugang zur Wirklichkeit zu ermöglichen. Dies wird in vielen Zen-Geschichten überzeugend beschrieben, sei es, dass der Schüler plötzlich einen starken Schmerz erleidet oder sei es, dass der Lehrer bewusst einen solchen Zustand herbeiführt, z.B. indem er den Schüler an der Nase packt, sie dreht und starke Schmerzen hervorruft. Dann kann plötzlich der Vorhang der theoretischen Fantasien zerreißen, sodass sich der Zugang zur Wirklichkeit ganz direkt eröffnet. Daraus wird deutlich, dass dann das Empfangen des Reizes und der Reizzustand im Menschen genau identisch sind.

Ein solcher direkter Sinnesreiz ist etwas völlig anderes, als dessen spätere verbale Beschreibung oder gedankliche Vorstellung. Der Zustand des Reizes, z.B. des Schmerzes, ereignet sich jäh im Augenblick und ganz unmittelbar.

Vers 3
Die hier formulierte Einheit von konkreten und abstrakten Sinnesreizungen ist aber selbst ein Konzept.

Es kann vorkommen, dass die klaren Empfindungen der reinen Sinnesreize einerseits und starke Emotionen, z.B. bei Suchtabhängigkeit, andererseits getrennt sind. Dann machen sich die Emotionen sozusagen selbständig und übersteigen die reine ursprüngliche Sinneswahrnehmung.

Dann ist die Aussage, dass konkrete Sinnesreizung und der emotionale Zustand des Menschen identisch sind, nicht mehr richtig. Die Sinnesreizung ist dann nur der erste Stimulus, der dann eine Emotionsverstärkung anstößt, die sich von der ursprünglichen Wahrnehmung ablöst oder sie zumindest übersteigt.

Vers 4
Nagarjuna untersucht (vertieft) die Einheit der konkreten Sinneswahrnehmung und der allgemeinen Gefühle des Menschen. Beide sind nicht dasselbe und bilden bei überschießenden Emotionen keine Einheit mehr. Im Übrigen sind Sinneswahrnehmungen, so wie sie sind, im Allgemeinen sehr differenziert und detailliert.

Dagegen sind starke Emotionen oft undifferenzierte große Kräfte, die den ganzen Menschen ergreifen und überfluten. Sie führen von der beobachtbaren feinen Wirklichkeit der einzelnen Dinge und Phänomene weg.

Vers 5
Wenn die konkrete Situation jedoch eine Einheit ist von sinnlicher Reizung und Gefühlen, entspricht dies dem Wirklichem. Dagegen können starke Gefühle auch Illusionen und Täuschungen erzeugen, die gegenüber der Wirklichkeit überschießend sind.

Nagarjuna betont, dass selbst im Falle der sich von der konkreten Wahrnehmung ablösenden Emotionalität die einfache Wirklichkeit der Sinnesreize immer vorhanden ist. Die durch Sinnesreizungen ausgelösten Illusionen schießen dann aber über die Wirklichkeit hinaus.

Vers 6
Bei einer Trennung der einfachen Sinnesreizung von den abstrakten Ideen über die Sinnesreizung kann keine Verschmelzung beider Bereiche erfolgen. Denn es gibt bei der sinnlichen Wahrnehmung vielfältige Ideen und Interpretationsmöglichkeiten der Dinge und Phänomene, die mit einer einfachen einheitlichen Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Derartige Zustände sind typisch für Menschen, die nicht im Gleichgewicht sind.

Vers 7
In der Wirklichkeit und im Zustand des Gleichgewichts gibt es eine Einheit der konkreten vielfältigen Dinge und Phänomene und dem Abstrakten der Empfindungen.

Wesentlich ist weiterhin die Tendenz der Menschen, in allem und jedem einen Zweck und eine Funktion zu suchen. Dies gilt nicht zuletzt für religiöse Lehren, die eine Absicht außerhalb dieser Welt unterstellen. Außerdem wird von den Menschen oft eine Vermutung und Projektion in die Zukunft vorgenommen und dies mit einer angeblichen Absicht oder einem bestimmten (oft gesellschaftlich festgelegten) Sinn in der Wirklichkeit verbunden. Damit wird das Hier und Jetzt verlassen.

Vers 8
Häufig gehen wir von einer Trennung der konkreten Sinnesreizung und des Abstrakten aus und wollen danach wieder zu einer Einheit von beidem gelangen.
Der starke Wunsch nach einer derartigen erfolgreichen Vereinigung kann sogar dazu führen, dass wir die vorherige Trennung voraussetzen und eventuell sogar in unserem Geist durch Denken unterstützen.

Eine ungeteilte Wirklichkeit wird auf diese Weise unversehens zu einem Wunschbild, das in die Zukunft verlagert wird und die Klarheit für das Hier und Jetzt verschleiert. Z.B. kann die Erleuchtung als eine solche angestrebte Einheit verstanden werden, die sich von der gegenwärtigen meditativen Praxis ablöst und, erreichbar oder nicht, in die Zukunft verlagert wird.

Dann bekommt die Einheit der konkreten Sinnesreizung und der abstrakten Gefühlswelt etwas Künstliches, das die Einheit wesentlich erschweren oder unmöglich machen kann. Erleuchtung ist nichts anderes als die Wirklichkeit im Hier und Jetzt und keine gefühlsmäßig überzogene Zukunftsvision. Denn das ist das Gegenteil wahrer buddhistischer Praxis.

Vers 9
Es gibt viele Möglichkeiten bei der Frage der Einheit oder Trennung von Sinnesreizungen, mit dem denkenden Geist in Verwirrungen zu geraten. Im Zustand des Gleichgewichtes sind wir aber in der Lage, die konkreten Einzelheiten durch die Sinnesreizungen wahrzunehmen und mögliche künstlich erzeugte Gefühle klar zu erkennen. Dann haben starke Emotionen, die uns zu fesseln drohen, einen Teil ihrer Kraft verloren, sodass sich die Chance zum Gleichgewicht auftut

Vers 10
Theoretische Überlegungen über Trennung oder Einheit der Sinneswahrnehmungen und Gefühle sind meist unfruchtbar und realitätsfremd. Es geht um die Gefühle und Sinnesreizungen selbst als Wirklichkeit und nicht um spekulative Denkkonstrukte.
Die Wirklichkeit des ganzen Dharma hat in den Gefühlen eine ganz reale Komponente. Wer Gefühle ausschaltet und nur den Intellekt einsetzt, wird kaum Zugang zur Wirklichkeit dieser Welt bekommen.

Gedachte Trennungen oder Vereinheitlichungen gehen an der Wirklichkeit vorbei. Sie sind Missverständnisse und Illusionen. Dies gilt besonders für die Erleuchtung, die immer die konkrete Situation ergreift, genau so wie sie ist. Dann gewinnen Gleichgewicht und Selbststeuerung die Oberhand.


Donnerstag, 23. Mai 2013

Untersuchung der materiellen Elemente, Nagarjuna, MMK, Kapitel 5


Die materiellen Elemente der indischen Philosophie unterscheiden sich von den Elementen der naturwissenschaftlichen und technischen Forschung der Gegenwart. Die materiellen Elemente sind: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum.

Dabei steht das Element Erde für feste Materie, Wasser für Flüssiges, Feuer für Verbrennung, Luft für Gase und der Raum gibt die reale räumliche Dimension dieser Welt wieder. Die indische Gliederung der physikalischen Elemente ist also wesentlich einfacher als bei uns, denn wir definieren die Elemente auf der Grundlage der Atome und Moleküle, unabhängig von den Aggregatzuständen fest, flüssig und gasförmig. Gleichwohl sind indischen Elemente für die Untersuchungen Nagarjunas durchaus sinnvoll. Denn sie spiegeln die materielle Welt wider, die wir auch als Außenbereich und Umgebung verstehen können. Dabei ist die räumliche Dimension besonders wichtig, denn sie unterscheidet die materielle von der idealistischen Lebensdimension, in der es im Allgemeinen keine räumliche Zuordnung gibt.

Häufig wird im Buddhismus auch von der Form gesprochen, die eine materielle Dimension dieser Welt ist und dreidimensional räumlich verstanden wird. Es ist daran zu erinnern, dass die materialistische Weltsicht und Lebensphilosophie eine Trennung von Subjekt und Objekt beinhaltet, sodass sie nur als Teilwahrheit verstanden werden kann. Naturwissenschaft und Technik gehören dieser materiellen Teilwirklichkeit an. Wir dürfen dabei nicht vergessen, welch große Fortschritte diese Denkweise für die Menschheit erbracht hat, aber welche Gefahren auch in der Einseitigkeit dieser Weltsicht entstehen können. Wenn das Materialistische im menschlichen Leben überwiegt, fehlen ideelle und spirituelle Bereiche und oft wird nur nach materiellem Vorteil und Genuss gestrebt. Dabei verödet das Leben.

Nagarjuna untersucht in diesem Kapitel beispielhaft den Raum und sagt, dass die anderen materiellen Elemente in gleicher Weise zu verstehen sind.

Eine umfassende Sicht unseres Lebens und der Welt beschränkt sich aber nicht auf die materielle Dimension. Form und Inhalt bilden immer eine Einheit, wenn wir wirkliche Erfahrung voraussetzen. Sie lassen sich nur im Denken und in der Theorie als zwei verschiedene Dimensionen unterscheiden. Da die buddhistische Lehre über den Materialismus und die materielle Dimension hinausgeht, besteht daher immer eine solche Einheit von äußerer Form und sinnhaftem Inhalt.

Vers 1
Wir können den wirklichen Raum, so wie er ist, erfahren und erleben, wenn die objektiven Charakteristika und die subjektiven Vorstellungen eine Einheit bilden. Bei einer Abspaltung der materiellen Dimension vom Inhalt können wir also die Wirklichkeit und Wahrheit nicht erfahren und nicht erkennen.

Charakteristika und Merkmale sind vom Menschen hinzugesetzt und sind eigentlich in der Wirklichkeit nicht vorhanden. Wenn also die Charakteristika verschwinden kann die wirkliche Welt realisiert werden.

Eine Situation ohne Charakteristika mag daher unser ursprünglicher Zustand sein, in dem wir uns noch nicht von der Wirklichkeit getrennt haben. Dann kommen unsere intuitiven Fähigkeiten zum Zuge und wir können unser Handeln und Leben klar und umfassend gestalten. Für Künstler und Sportler ist es unumgänglich, das unterscheidende Beobachten und Denken auszuschalten, um ihre vorhandenen Fähigkeiten „abrufen“ zu können.

Besonders wirkungsvoll ist in diesem Sinne die Praxis des Zazen.

Vers 2
Wir ordnen den Dingen, die uns umgeben, meist bestimmte Charakteristika zu, die oft sogar willkürlich gewählt werden. Dadurch können wir die Dinge von einander unterscheiden und uns in der Welt mit anderen verständigen.

Besonders bewertende Charakteristika und Merkmale bergen aber die Gefahr in sich, dass wir sie wie Wirklichkeiten verstehen und kommunizieren. Dadurch können wir uns selbst und andere leicht täuschen.

Vers 3
Nagarjuna vertieft seine Überlegungen zu den Charakteristika der Dinge, also die räumlichen Unterscheidungen und Merkmale. Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden.

Wenn wir z.B.: von einem Wasserstrudel reden und dabei auf die Gefahren hinweisen, die er für Schwimmer oder kleine Boote bedeutet, so ist dies effizient und nützlich zur Kommunikation, aber der Wasserwirbel ist selbstverständlich Teil des Flusses und besteht wie dieser aus Wasser. Eigentlich ist daher der Strudel gar nicht getrennt vom Wasser und kein eigenes Ding. Die Merkmale des Strudels sind in Bezug auf die Gefahren besonders wichtig, sind also Attribute, die wir an den bestimmten Ort im Wasser zuordnen. Der Strudel kann z.B. einen Schwimmer in die Tiefe ziehen, sodass er in große Gefahr kommt oder sogar ertrinkt.

Wenn wir die Charakterisierung durch einen Strudel, die wir selbst vornehmen, weglassen, so beschreibt dies die Wirklichkeit ohne Merkmale. Die Beschreibung des Wasser-Wirbels würde dann nur so lauten, dass er sich in bestimmter Weise im Kreis dreht, aber eine Bewertung nach der Gefährlichkeit würde entfallen.

Nagarjuna sagt uns damit, dass wir bewertende Charakteristika immer in der Einheit mit den Dingen und Phänomenen verstehen und nicht abtrennen.

Vers 4
Wenn ein Charakteristikum nicht erkannt und gesehen wird, gibt es dieses überhaupt nicht. Man kann nicht sagen, dass es existiert, denn die Charakteristika sind nicht unabhängig von der Sache, dem sie zugeordnet sind.

Meist sind die Charakteristika bildhaft. Wenn die Bilder nicht vorhanden sind, gibt es demnach auch keine Charakteristika.


Vers 5
Die kennzeichnenden Bilder müssen klar erkannt werden, damit auch die Charakteristika erkennbar sind. Die räumlichen Charakteristika sind wie im vorherigen Vers dargelegt Bilder.

Das wirkliche Erkennen der Charakteristika ist mit dem wirklichen Erkennen des Sachverhaltes verknüpft. Wenn wir uns in unserer Vorstellung Merkmale ausdenken, die mit den Merkmalen der Sache nicht identisch sind, erkennen wir nicht einmal die materielle Dimension unserer Welt richtig. Das richtige Erkennen der Charakteristika ist identisch mit den Charakteristika selbst.

Vers 6
Es ist eine alte Frage der Menschheit, ob die Wirklichkeit existiert oder nicht. Aufgrund des Denkens im Idealismus und der Wahrnehmung im Materialismus kann man diese Frage nicht beantworten. Und sie kann die Menschen endlos beschäftigen und verwirren.

Es gibt eine intuitive Sicherheit, dass diese Welt wirklich existiert, und damit die obige Frage überflüssig macht.

Nagarjuna wurde häufig als Nihilist eingestuft und dass er die Wirklichkeit abstreitet und für nicht existent erklärt. Dies ist meines Erachtens völlig falsch und wird heute auch von ernsthaften Wissenschaftlern kaum noch vertreten.

Im Zen – Buddhismus gibt es viele Geschichten, wie der zweifelnde Geist durch ein reales Erlebnis durchbrochen wird. Beim Empfinden eines starken Schmerzes ist für uns die Wirklichkeit unabhängig vom Theoretisieren ganz klar und evident. Das ist für wissende und unwissende Menschen gleich.

Vers 7
Die Vorstellungen und Worte von Existenz und Nicht-Existenz müssen von der Wirklichkeit unterschieden werden. Auch die Einteilung in die fünf materiellen Elemente sind Konzepte und nicht die Wirklichkeit selbst. Das gedachte Konzept von Wasser kann niemals unseren Durst löschen.

Vers 8
Die Wirklichkeit kann als Dinge und Phänomene gesehen werden, die sich direkt vor uns befinden. Es ist unsinnig diese Welt der Dinge und Phänomene abzustreiten. Das wäre sehr töricht.

Törichte Menschen wollen die Wirklichkeit der Dinge und Phänomene nicht sehen, aber die Dinge und Phänomene sind etwas Ruhiges und Angenehmes.

Dies mag für Menschen, die in lauten und verunreinigten Städten leben, seltsam oder sogar absurd erscheinen. Aber es ist von entscheidender Bedeutung, ob wir selbst im Gleichgewicht und unserem Zentrum leben. Wenn dies der Fall ist, werden wir von der Unruhe unserer Städte nicht angesteckt, sodass diese Unruhe eigentlich für den Menschen überhaupt nicht mehr existiert. Dies ist eine zentrale Aussage der buddhistischen Theorie und Praxis.

Dienstag, 14. Mai 2013

Untersuchung der Skandhas (Komponenten) des Menschen und der Welt, Nagarjuna, MMK, Kapitel 4



Vers 5
Etwas das keine Ursache oder keine Form hat kann sich niemals in dieser Welt manifestieren. Es gibt also keine Form ohne Ursachen.

Was wir als Veränderung bezeichnen ist ein mentaler Vergleich eines früheren mit einem späteren Zustand. Es ist also ein gedankliches Konstrukt. In der Wirklichkeit gibt es aber nur den jeweiligen Zustand im Augenblick während die Vergleiche durch Gehirntätigkeit erzeugt werden.

Im Gegensatz zur Form besitzt das was wir Veränderung nennen keine Wirklichkeit. Es ist eine Interpretation der jeweiligen Tatsachen im Augenblick.

Vers 6
Während wir etwas tun und handeln, können wir die Erfahrung kaum bewerten und klassifizieren. Es ist auch kaum möglich das Handeln als angenehm, passend und richtig oder umgekehrt als nicht angenehm, nicht passend oder falsch einzuschätzen.

Solche Bewertungen setzen wir gewissermaßen durch Gehirntätigkeit später hinzu. Das Handeln selbst vollzieht sich ohne derartige Klassifikationen.

Wenn das Handeln abgeschlossen und vollendet ist, gibt es Tatsachen, die sich in der wirklichen Welt manifestieren. Derartige Tatsachen werden von unserem Geist in der einen oder anderen Weise eingeordnet.

Was wir im Augenblick tun hat Folgen, die in der Welt bleiben. Wenn wir etwas getan haben, wird eine solche Handlung augenblicklich eine konkrete Tatsache.

Vers 7
Beim Erwerben von Wissen ist immer eine Absicht wirksam. Sie ist also ein wesentlicher Teil des Wissens selbst. Das heißt die Absicht steuert den Erwerb des Wissens. Sie färbt gewissermaßen das, was bei dem Studium erlangt wird. Es ist daher außerordentlich wichtig, Klarheit über die Absicht, die uns wesentlich steuert, zu erreichen und zu bewahren.

Jede Untersuchung findet in Bezug auf die Tatsachen der wirklichen Welt statt. Unser Handeln und Erwerben von Wissen hat dabei Rückwirkungen, die mehr oder minder stark auf andere und das ganze Universum wirksam sind.

Vers 8
Wer im Gleichgewicht ist, kann seine Aufmerksamkeit aufrechterhalten und gefestigt über alles reden. Er akzeptiert die vernetzten Prozesse, die er nicht ändern oder beeinflussen kann, in ruhiger unaufgeregter Haltung. Er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, ist ohne Panik oder Euphorie auf dem Mittleren Weg.

Diesen Zustand bezeichnet Nagarjuna als Leerheit (shunyata).

Vers 9
Manchmal ist es unbedingt nötig, einen anderen Menschen auf Fehler und Irrtümer hinzuweisen. Dies muss im Einklang mit dem buddhistischen Gelöbnis sein, dass wir nicht über die Fehler anderer herzuziehen, uns nicht selbst loben und aufwerten. Es muss also eine wirkliche Hilfe für den Anderen sein, die dieser auch akzeptiert, um daraus zu lernen. Ein solcher Hinweis auf Fehler gelingt, wenn wir selbst im Gleichgewicht sind und keine Aggressionen haben.

Wer selbst im Gleichgewicht ist, begeht keine gravierenden Fehler. Dafür ist vor allem die Praxis des Samadhi von zentraler Bedeutung. Bekanntlich ist der Samadhi ein Glied des Achtfachen Pfades. Im Samadhi selbst sind wir im Gleichgewicht und werden nicht durch Ideologien oder Vorurteile gesteuert. Wenn man anderen einen Rat erteilt und auf Fehler hinweist, muss das frei von Egoismus und Selbstdarstellung sein.