Die wirkliche existentielle Zeit des
Buddhismus ist in der Theorie und Praxis von sehr großer Bedeutung. Auch in der
modernen Physik ist das Verhältnis von Zeit und Raum von zentraler Bedeutung.
Diese Kenntnisse standen den Buddhisten zur Zeit Nagarjunas natürlich noch
nicht zur Verfügung, aber die großen Meister hatten eine tiefe intuitive
Einsicht, was die existentielle Zeit,
die Sein-Zeit für den Menschen und
die Welt ist.
Der Buddhismus hat als wesentliche
Grundlage die Wirklichkeit des wahre Handelns im gegenwärtigen Augenblick. Dies
ist die wahre Zeit der Existenz. Weder die Vergangenheit noch die Zukunft
lassen das Handeln in der Wirklichkeit zu. Sie sind lediglich Erinnerungen und
Widerspiegelungen in unserem Gehirn. Ich bezeichne sie als lineare Zeit. Für organisatorische und technische Fragestellungen
und Aufgaben ist die lineare Zeit sicher ein wichtiges Hilfsmittel, aber für
die wesentlichen Bereiche der existenziellen Wirklichkeit, nicht zuletzt in der
spirituellen Erfahrung, ist der gegenwärtige Augenblick wichtiger als alles
andere.
Gegenüber dem wahren erlebten Augenblick
ist eine Zeitangabe mit dem Begriff „Gegenwart“ sehr viel abstrakter und
ungenauer. Daher zähle ich die Vorstellung der Gegenwart wie die Vergangenheit
und Zukunft zur linearen Zeit und nicht zur Existenz-Zeit.
Im Shôbôgenzô von Meister Dôgen gibt es
ein gesondertes Grundlagen-Kapitel zur Sein-Zeit mit der japanischen
Bezeichnung Uji, wobei U die Existenz und ji die Zeit bedeutet. In Vers 6 dieses Kapitels kommt Nagarjuna viele Jahrhunderte früher auf
die gleichen existentiellen Aussagen über die wahre Zeit wie Dôgen.
Vers 1
Nagarjuna nennt die Vergangenheit eine
Zeit, in welcher der gegenwärtige Augenblick noch nicht da ist. Wenn der
gegenwärtige Augenblick angekommen ist, wird die Vergangenheit zur Erinnerung in unserem Gehirn und das ist
eine unvollständige Repräsentation dessen, was in der Vergangenheit wirklich
gewesen ist. Die Augenblicke in der Vergangenheit waren Wirklichkeit, aber die
Erinnerung daran ist es nicht.
Vers 2
Der gegenwärtige Augenblick hat Stabilität und Wirklichkeit. Dagegen
gibt es für die Vergangenheit viele Unsicherheiten und wir können nie ganz
sicher sein, was wirklich in der Vergangenheit gewesen ist.
Die instabile Situation in der
Vergangenheit kann auch mit Worten niemals genau beschrieben werden.
Vers 3
Nagarjuna nennt die Vergangenheit jene
„Zeit wenn der gegenwärtige Augenblick noch nicht angekommen ist“. Der gegenwärtige Augenblick ist dagegen die
wirkliche Zeit, während die Vergangenheit nur ungenau gedacht und erinnert
werden kann.
Das gebräuchliche Konzept der linearen
Zeit kann für die Wirklichkeit nicht verwendet werden.
Vers 4
Handeln ist die
Grundlage für die wirkliche Welt hier auf der Erde und für die gedachte
abstrakte Welt, die oberhalb der wirklichen Welt ist. Beide Welten bewegen sich
durch Handeln.
Im Handeln des Augenblicks verschwinden
Bewertungen wie das Höchste oder das Niedrigste und das Mittlere. Sie werden zu
einer Einheit.
Vers 5
Was wir üblicher Weise als Zeit
verstehen, ist die Kontinuität von der Vergangenheit über die Gegenwart in die
Zukunft. Ohne diese Kontinuität ist das Konzept
der Zeit im üblichen Sinne sinnlos. Ohne die Kontinuität und Linearität
gibt es überhaupt kein Konzept der
Zeit.
Konkrete Erfahrungen gibt es aber nur
im gegenwärtigen Augenblick. Sie können als Wirklichkeit
erfasst werden. Demgegenüber kann Vergangenheit und Zukunft nicht wirklich erfasst werden, weil es
sich nur um Erinnerungen und Erwartungen für die Zukunft handelt. Die wirkliche
Sein–Zeit im Augenblick kann aber mit dem Verstand nicht gedacht werden.
Vers 6
Die wirkliche Zeit, also der
gegenwärtige Augenblick, ist unauflösbar mit der wirklichen Existenz verbunden. Ohne Sein-Zeit gibt es keine
Existenz und umgekehrt.
Daher ist es ausgeschlossen, dass die Existenz sich von der Zeit entfernt,
also unabhängig von ihr ist. Alle Ideen über die Zeit sind dagegen abstrakt und
keine konkrete Wirklichkeit.
Außerhalb des gegenwärtigen Augenblicks
kann es keine Existenz geben. Wenn es keine wirkliche Existenz gibt, kann es
auch keine wirkliche Zeit geben.
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