Ob
wir uns eingeengt und eingegrenzt oder frei fühlen, hängt ganz wesentlich von
unserer eigenen geistig-psychischen Situation ab. Unser psychischer und
geistiger Zustand wird nach meiner festen Überzeugung ganz wesentlich durch unser
vegetatives Nervensystem bestimmt: Ob
es sich mehr im Zustand der Spannung befindet, und wir uns entsprechend
eingeengt, fremdbestimmt oder gestresst fühlen, oder ob es spannungsfrei und
lax ist und wir uns dann eher frei und emanzipiert fühlen.
Es
ist das natürliche Bestreben und der große Wunsch des Menschen, völlig frei und
emanzipiert zu sein. Aber dies dürfte in der Wirklichkeit unmöglich sein. Zum
einen geht es um die realen Lebens-Bedingungen, in denen wir leben oder leben
müssen, aber nicht zuletzt um unsere subjektive psychische und physische
Situation der Spannung oder Entspannung.
In
diesem Kapitel untersucht Meister Nagarjuna die Lebenssituation in Freiheit oder
in Restriktionen und Begrenzungen. Wichtig dabei ist das Handeln: wenn wir ganz
im Augenblick handeln, ist das vegetative
Nervensystem im Gleichgewicht, sodass weder
das Gefühl der Restriktion noch das
der freien Unbegrenztheit überwiegt. Dies ist genau der Zustand in der Zazen –
Praxis, also des Samadhi in der vierten Vertiefung: Dann verschwindet der
unangenehme Gegensatz von Restriktion und ausufernder Laxheit; wir sind im
lebendigen Gleichgewicht, das ist der Mittlere Weg.
Vers
1
Meist
wird die Aussage dieses Verses nur auf die Wiedergeburt und damit als Wandern
durch das Samsara zum nächsten Leben interpretiert. Mir scheint dies viel zu
eng zu sein, es kann der Bedeutung dieses ganzen Kapitels nicht gerecht werden.
Daher verwende ich den Begriff „weiter gehen“ oder „durch das Leben gehen“.
Unser
Verhalten im Leben ist in bestimmten Situationen nicht nur instinktiv, sondern
umfasst auch Ethik, Verantwortung für uns und die Umwelt sowie das
Gleichgewicht der Selbststeuerung von Körper-und-Geist.
Dies
bedeutet nach buddhistischer Lehre, dass wir im Einklang mit der ganzen Welt
und dem ganzen Universum sind.
Vers
2
Dieser
Vers bezieht sich auf die fünf Komponenten des Menschen und der Welt (Skandhas):
Materie, Sinneswahrnehmung, Denken, Handeln und Bewusstsein. Diese Komponenten
dürfen wir uns aber nicht dinghaft vorstellen, sondern sie haben sowohl eine
materielle und als auch eine spirituelle Dimension, beide ist eine Einheit, die
sich ständig in Bewegung ist. Die Wirklichkeit der fünf Komponenten können wir
im Gleichgewicht des Samadhi/Zazen beobachten, erforschen, also deren
Wirklichkeit erkennen.
Wenn
ein gewöhnlicher Mensch durch das Leben geht, basieren die fünf Komponenten (Skandhas)
im Allgemeinen scheinbar nur auf
physikalischer Materie, also auf dem Körper; aber das ist eine ganz
eingeschränkte Sichtweise.
Wenn
aber die fünf Komponenten (Skandhas) ganz verwirklicht sind, und dies ist eine
Art von klarem und tiefem Erforschen, ist es für uns möglich, wirklich durch
den Alltag zu gehen. Dies gilt für die Gegenwart und Zukunft.
Vers
3
Wenn
wir keine klare Wahrnehmung und Einsicht haben, scheint es so, als ob unser
Körper und Geist völlig ziellos durchs Leben geht. Wenn aber die Wahrnehmung im
Gleichgewicht ist und von uns selbst gesteuert wird, so gilt dies auch für
Körper und Geist. Dann überschreitet die Sinneswahrnehmung die gewöhnliche
materielle und daher begrenzte sichtweise durch unsere Sinnesorgane.
Ein
solcher Zustand geht über Denken und Reden hinaus, er ist die Verwirklichung an jeden Ort und zwar
auch in Zukunft.
Vers
4
Wesentlich
für unser Handeln ist das eigene Gleichgewicht, die Balance von Körper und
Geist, denn sonst ist das Handeln ohne Sinn: Es kann sich dann nichts Wahres
ereignen.
Wenn
im Zustand der Wirklichkeit die Balance nicht beobachtet und wahrgenommen wird,
kann sich ebenfalls nichts Wahres ereignen.
Es
ist also ganz wesentlich, dass wir im Zustand des Gleichgewichts und der
Balance handeln. Sonst ist es nicht möglich, irgendetwas Wichtiges und
Wertvolles zu tun. Wahres Handeln ist dann unmöglich.
Vers
5
In
diesem Vers geht es um die zentrale Frage der Freiheit und Bindung, Determination. Auf der rein logischen Ebene
sind die beiden Konzepte von Freiheit und Determination unvereinbar. Viele
Menschen und sogar Philosophen vertreten eine solche Ausschließlichkeit: Entweder
sind wir danach durch die vorausgehenden Ursachen determiniert und festgelegt, dann haben wir keine Willensfreiheit.
Oder unser Geist ist im idealistischen Sinne frei und entscheidet, was zu tun ist und wie es in Zukunft weitergeht.
In
der Wirklichkeit dieser Welt gibt es beides, was nur in der Theorie unvereinbar
erscheint, denn die Wirklichkeit der Welt ist der Augenblick. Daher ist genau in der Wirklichkeit des
Augenblicks die freie Entscheidung jederzeit möglich, während in der linearen
Zeit die Festlegung durch die Vergangenheit gegeben ist.
Das
gilt nicht zuletzt für das Handeln: Die Dimensionen der Determination und
Freiheit sind gleichzeitig wirksam.
Vers
6
In
unserem normalen Leben haben wir häufig das Gefühl, begrenzt zu sein und äußeren
oder inneren Restriktionen zu unterliegen. Wenn wir jedoch die Situation im
gegenwärtigen Augenblick betrachten, so gibt es eigentlich weder Restriktionen
noch absolute Freiheit, weil beides nur Beschreibungen und sogar Bewertungen
sind. Beschreibungen sind aber niemals die Wirklichkeit selbst und Bewertungen
schon gar nicht.
Was
sich noch nicht manifestiert hat, kann auch nicht den Restriktionen
unterliegen, weil es noch gar nicht da ist. Die Restriktionen sind dann in unserem Geist und nicht in der
Wirklichkeit.
Vers
7
Die
wirklichen Tatsachen existieren, bevor wir davon reden: dass etwas begrenzt ist
und Restriktionen unterliegt oder nicht. Die reinen Tatsachen sind also
unabhängig vom Reden und Denken. Damit eröffnet sich die wirkliche Freiheit im
Augenblick.
Es
handelt sich um dieselbe Situation wie im Kapitel über das Gehen: die Vorstellung und das Reden über Gehen
oder die Wirklichkeit des Gehens
selbst. Wir müssen also die mentale Ebene der Vorstellungen und des Denkens genau
von der Wirklichkeit unterscheiden.
Vers
8
Rein
logisch ist es nicht möglich, dass etwas, was schon unbegrenzt ist und keiner
Restriktion unterliegt, in einem besonderen Prozess emanzipiert und befreit
wird: Es ist ja bereits ohne Restriktionen.
Umgekehrt
ist es im gegenwärtigen Augenblick der Wirklichkeit nicht möglich, dass starre Restriktionen
sich wegen der Kürze der Zeit verändern können und zu Freiheit und Emanzipation
werden.
In
der Wirklichkeit gibt es also immer die Einheit
von beidem, nämlich von Restriktion und Emanzipation. Es gibt nicht das Entweder-Oder.
Vers
9
Wenn
die Sinnes-Wahrnehmung das Äußeren des Materiellen überwunden hat, ist dies der
Zustand des Gleichgewichts und wir
sind nicht auf die äußere Form fixiert.
Die
wirklichen Dinge und Phänomene sind reale Tatsachen, die wir mit der
Wahrnehmung erfassen können. Dies ist die große Welt, die sich vor uns als
wunderbares Bild manifestiert.
Vers
10
Der
Zustand der Balance in unserem Leben ist gleichzeitig das Nirvana. Es ist nicht ein jenseitiges erträumtes Paradies, sondern
genau das tägliche Leben im Hier und Jetzt. Ein solches Leben im Gleichgewicht
ist daher kein Gegensatz zum Nirvana und nicht etwas Anderes oder Zukünftiges.
Die
Worte und unsere Sprache reichen nicht aus, um das Nirvana vollständig und
erschöpfend zu beschreiben. Die Wirklichkeit geht über die Sprache hinaus. Aber selbst auf der Sprachebene ist es ganz
unsinnig, ein erfülltes reales Leben
im Gleichgewicht mit einem erträumten
Nirvana zu vertauschen.
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