Über mich

Mein Bild
Meister Nishijima praktiziert Buddhismus seit über 60 Jahren. Er war Schüler von Meister Kodo Sawaki, einem japanischen umherziehenden Priester, der berühmt dafür war unermüdlich zu betonen, dass die Praxis des Zazen ihren richtigen zentralen Platz im Buddhismus erhält und der selbst intensiv praktizierte. Meister Nishijima wurde von Meister Renpo Niwa als Priester ordiniert, der später als Abt den Zentraltempel des Soto-Buddhismus leitete. Nishijima Roshi hat viele Bücher über Buddhismus u.a. von Dogen sowohl in Japanisch als auch in Englisch geschrieben. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren hat er in Japanisch und Englisch viele Vorträge gehalten, Seminare und Sesshins geleitet sowie genaue Anweisungen zum Buddhismus und vor allem zum Zazen gegeben. Deutsche Fassung: Yudo J. Seggelke

Freitag, 27. September 2013

Untersuchung der Einheit von Begrenzung und Befreiung (Bandhamoksha pariksha) Nagarjuna, MMK, Kapitel 16



Ob wir uns eingeengt und eingegrenzt oder frei fühlen, hängt ganz wesentlich von unserer eigenen geistig-psychischen Situation ab. Unser psychischer und geistiger Zustand wird nach meiner festen Überzeugung ganz wesentlich durch unser vegetatives Nervensystem bestimmt: Ob es sich mehr im Zustand der Spannung befindet, und wir uns entsprechend eingeengt, fremdbestimmt oder gestresst fühlen, oder ob es spannungsfrei und lax ist und wir uns dann eher frei und emanzipiert fühlen.

Es ist das natürliche Bestreben und der große Wunsch des Menschen, völlig frei und emanzipiert zu sein. Aber dies dürfte in der Wirklichkeit unmöglich sein. Zum einen geht es um die realen Lebens-Bedingungen, in denen wir leben oder leben müssen, aber nicht zuletzt um unsere subjektive psychische und physische Situation der Spannung oder Entspannung.

In diesem Kapitel untersucht Meister Nagarjuna die Lebenssituation in Freiheit oder in Restriktionen und Begrenzungen. Wichtig dabei ist das Handeln: wenn wir ganz im Augenblick handeln, ist das vegetative Nervensystem im Gleichgewicht, sodass weder das Gefühl der Restriktion noch das der freien Unbegrenztheit überwiegt. Dies ist genau der Zustand in der Zazen – Praxis, also des Samadhi in der vierten Vertiefung: Dann verschwindet der unangenehme Gegensatz von Restriktion und ausufernder Laxheit; wir sind im lebendigen Gleichgewicht, das ist der Mittlere Weg.

Vers 1
Meist wird die Aussage dieses Verses nur auf die Wiedergeburt und damit als Wandern durch das Samsara zum nächsten Leben interpretiert. Mir scheint dies viel zu eng zu sein, es kann der Bedeutung dieses ganzen Kapitels nicht gerecht werden. Daher verwende ich den Begriff „weiter gehen“ oder „durch das Leben gehen“.

Unser Verhalten im Leben ist in bestimmten Situationen nicht nur instinktiv, sondern umfasst auch Ethik, Verantwortung für uns und die Umwelt sowie das Gleichgewicht der Selbststeuerung von Körper-und-Geist.

Dies bedeutet nach buddhistischer Lehre, dass wir im Einklang mit der ganzen Welt und dem ganzen Universum sind.

Vers 2
Dieser Vers bezieht sich auf die fünf Komponenten des Menschen und der Welt (Skandhas): Materie, Sinneswahrnehmung, Denken, Handeln und Bewusstsein. Diese Komponenten dürfen wir uns aber nicht dinghaft vorstellen, sondern sie haben sowohl eine materielle und als auch eine spirituelle Dimension, beide ist eine Einheit, die sich ständig in Bewegung ist. Die Wirklichkeit der fünf Komponenten können wir im Gleichgewicht des Samadhi/Zazen beobachten, erforschen, also deren Wirklichkeit erkennen.

Wenn ein gewöhnlicher Mensch durch das Leben geht, basieren die fünf Komponenten (Skandhas) im Allgemeinen scheinbar nur auf physikalischer Materie, also auf dem Körper; aber das ist eine ganz eingeschränkte Sichtweise.

Wenn aber die fünf Komponenten (Skandhas) ganz verwirklicht sind, und dies ist eine Art von klarem und tiefem Erforschen, ist es für uns möglich, wirklich durch den Alltag zu gehen. Dies gilt für die Gegenwart und Zukunft.

Vers 3
Wenn wir keine klare Wahrnehmung und Einsicht haben, scheint es so, als ob unser Körper und Geist völlig ziellos durchs Leben geht. Wenn aber die Wahrnehmung im Gleichgewicht ist und von uns selbst gesteuert wird, so gilt dies auch für Körper und Geist. Dann überschreitet die Sinneswahrnehmung die gewöhnliche materielle und daher begrenzte sichtweise durch unsere Sinnesorgane.

Ein solcher Zustand geht über Denken und Reden hinaus, er ist die Verwirklichung an jeden Ort und zwar auch in Zukunft.

Vers 4
Wesentlich für unser Handeln ist das eigene Gleichgewicht, die Balance von Körper und Geist, denn sonst ist das Handeln ohne Sinn: Es kann sich dann nichts Wahres ereignen.

Wenn im Zustand der Wirklichkeit die Balance nicht beobachtet und wahrgenommen wird, kann sich ebenfalls nichts Wahres ereignen.

Es ist also ganz wesentlich, dass wir im Zustand des Gleichgewichts und der Balance handeln. Sonst ist es nicht möglich, irgendetwas Wichtiges und Wertvolles zu tun. Wahres Handeln ist dann unmöglich.

Vers 5
In diesem Vers geht es um die zentrale Frage der Freiheit und Bindung, Determination. Auf der rein logischen Ebene sind die beiden Konzepte von Freiheit und Determination unvereinbar. Viele Menschen und sogar Philosophen vertreten eine solche Ausschließlichkeit: Entweder sind wir danach durch die vorausgehenden Ursachen determiniert und festgelegt, dann haben wir keine Willensfreiheit. Oder unser Geist ist im idealistischen Sinne frei und entscheidet, was zu tun ist und wie es in Zukunft weitergeht.

In der Wirklichkeit dieser Welt gibt es beides, was nur in der Theorie unvereinbar erscheint, denn die Wirklichkeit der Welt ist der Augenblick. Daher ist genau in der Wirklichkeit des Augenblicks die freie Entscheidung jederzeit möglich, während in der linearen Zeit die Festlegung durch die Vergangenheit gegeben ist.

Das gilt nicht zuletzt für das Handeln: Die Dimensionen der Determination und Freiheit sind gleichzeitig wirksam.

Vers 6
In unserem normalen Leben haben wir häufig das Gefühl, begrenzt zu sein und äußeren oder inneren Restriktionen zu unterliegen. Wenn wir jedoch die Situation im gegenwärtigen Augenblick betrachten, so gibt es eigentlich weder Restriktionen noch absolute Freiheit, weil beides nur Beschreibungen und sogar Bewertungen sind. Beschreibungen sind aber niemals die Wirklichkeit selbst und Bewertungen schon gar nicht.

Was sich noch nicht manifestiert hat, kann auch nicht den Restriktionen unterliegen, weil es noch gar nicht da ist. Die Restriktionen sind dann in unserem Geist und nicht in der Wirklichkeit.

Vers 7
Die wirklichen Tatsachen existieren, bevor wir davon reden: dass etwas begrenzt ist und Restriktionen unterliegt oder nicht. Die reinen Tatsachen sind also unabhängig vom Reden und Denken. Damit eröffnet sich die wirkliche Freiheit im Augenblick.

Es handelt sich um dieselbe Situation wie im Kapitel über das Gehen: die Vorstellung und das Reden über Gehen oder die Wirklichkeit des Gehens selbst. Wir müssen also die mentale Ebene der Vorstellungen und des Denkens genau von der Wirklichkeit unterscheiden.

Vers 8
Rein logisch ist es nicht möglich, dass etwas, was schon unbegrenzt ist und keiner Restriktion unterliegt, in einem besonderen Prozess emanzipiert und befreit wird: Es ist ja bereits ohne Restriktionen.

Umgekehrt ist es im gegenwärtigen Augenblick der Wirklichkeit nicht möglich, dass starre Restriktionen sich wegen der Kürze der Zeit verändern können und zu Freiheit und Emanzipation werden.

In der Wirklichkeit gibt es also immer die Einheit von beidem, nämlich von Restriktion und Emanzipation. Es gibt nicht das Entweder-Oder.

Vers 9
Wenn die Sinnes-Wahrnehmung das Äußeren des Materiellen überwunden hat, ist dies der Zustand des Gleichgewichts und wir sind nicht auf die äußere Form fixiert.

Die wirklichen Dinge und Phänomene sind reale Tatsachen, die wir mit der Wahrnehmung erfassen können. Dies ist die große Welt, die sich vor uns als wunderbares Bild manifestiert.

Vers 10
Der Zustand der Balance in unserem Leben ist gleichzeitig das Nirvana. Es ist nicht ein jenseitiges erträumtes Paradies, sondern genau das tägliche Leben im Hier und Jetzt. Ein solches Leben im Gleichgewicht ist daher kein Gegensatz zum Nirvana und nicht etwas Anderes oder Zukünftiges.

Die Worte und unsere Sprache reichen nicht aus, um das Nirvana vollständig und erschöpfend zu beschreiben. Die Wirklichkeit geht über die Sprache hinaus. Aber selbst auf der Sprachebene ist es ganz unsinnig, ein erfülltes reales Leben im Gleichgewicht mit einem erträumten Nirvana zu vertauschen.


Keine Kommentare: