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Meister Nishijima praktiziert Buddhismus seit über 60 Jahren. Er war Schüler von Meister Kodo Sawaki, einem japanischen umherziehenden Priester, der berühmt dafür war unermüdlich zu betonen, dass die Praxis des Zazen ihren richtigen zentralen Platz im Buddhismus erhält und der selbst intensiv praktizierte. Meister Nishijima wurde von Meister Renpo Niwa als Priester ordiniert, der später als Abt den Zentraltempel des Soto-Buddhismus leitete. Nishijima Roshi hat viele Bücher über Buddhismus u.a. von Dogen sowohl in Japanisch als auch in Englisch geschrieben. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren hat er in Japanisch und Englisch viele Vorträge gehalten, Seminare und Sesshins geleitet sowie genaue Anweisungen zum Buddhismus und vor allem zum Zazen gegeben. Deutsche Fassung: Yudo J. Seggelke

Mittwoch, 31. Januar 2007

Die vier Lebensphilosophien des Buddhismus

1. Leiden, Ansammlung, Selbststeuerung und Moral.

Ich habe bereits ausgeführt, dass die Lehren Gautama Buddhas grundsätzlich auf dem Realismus beruhen, der die Wahrheit des Universums ist und die Verschmelzung unseres wirklichen Handelns mit der wirklichen Existenz des Universums im gegenwärtigen Augenblick darstellt. Dies ist die fundamentale Grundlage der Lehren Gautama Buddhas. Darauf aufbauend hat er die folgenden wichtigen buddhistischen Grundsätze gelehrt: die vier Lebensphilosophien, das Gesetz von Ursache und Wirkung, die Augenblicklichkeit des Universums und die wirkliche Existenz der Moral.
Von diesen Grundsätzen Gautama Buddhas sind die vier Lebensphilosophien besonders wichtig, sie sollen nun genauer erklärt werden und lauten wie folgt:
a. Lehre vom Leiden (duhkha satya)
b. Lehre von der Ansammlung (samudaya satya)
c. Lehre von der Selbststeuerung (niroda satya)
d. Lehre der Moral (margha satya).
Diese Grundsätze und Lehren gab es über hundert Jahre lang nach Gautama Buddhas Tod in mündlich überlieferter Form. Sie wurden in der Zeit des Hinayana-Buddhismus m.E. nur in vereinfachter Interpretation gelehrt. Diese vereinfachten Texte und Deutungen sind in den Hinayana-Sutras, z.B. in dem Agama-Sutra wiedergegeben. Sie besagen in dieser Fassung etwa Folgendes:
- Die Lehre vom Leiden, die oft so interpretiert wird, dass die Welt immer leidvoll ist.
- Die Ursache des Leidens ist einfach die Begierde.
- Wenn wir die Begierde beenden,
- wird ein glückliches Leben kommen.
Als ich diese üblichen Interpretationen zuerst studierte, kam ich zu dem klaren Schluss, dass ich diese doch sehr einfachen Erklärungen nicht annehmen konnte. Zunächst überlegte ich, ob diese Welt immer leidhaft ist oder nicht. Es wurde mir klar, dass die Welt und das Leben zwar manchmal leidhaft sind, aber manchmal auch angenehm und glücklich. Da das Leben und die Welt nicht immer leidbehaftet sind, konnte auch die zweite Aussage nicht immer richtig sein. In Bezug auf die dritte Lehre hatte ich ernsthafte Zweifel, ob es überhaupt möglich und sinnvoll sein könne, „normale“ Begierden, soweit sie nicht übertrieben stark sind, zu unterdrücken. Bei der vierten Lehre hatte ich Zweifel, ob es so einfach ist, die Moral z.B. durch einen geistigen Vorgang zu verwirklichen. Insgesamt konnte ich mich mit diesen Interpretationen, die im Zeitalter des Hinayana-Buddhismus benutzt wurden, überhaupt nicht einverstanden erklären. Als ich dann den Shobogenzo studierte, der im 13. Jahrhundert als hervorragende Sammlung buddhistischer Lehren von dem buddhistischen Mönch Meister Eihei Dogen verfasst wurde, fand ich das außerordentlich tiefgründige und wesentliche Kapitel mit der Bezeichnung "Das verwirklichte Universum" (Genjo Ko-an). In der kleineren Ausgabe von 75 Kapiteln des Shobogenzo ist dieses das erste und damit von großer Bedeutung. In der größeren Fassung von 95 Kapiteln steht es als drittes, also ebenfalls am Anfang. Schon durch diese Anordnung des Kapitels “ Das verwirklichte Universum“ in beiden Ausgaben des Shobogenzo wird deutlich, dass es eine außerordentliche Bedeutung als Einführung für das gesamte Werk und den Buddhismus überhaupt hat. Ich möchte daher die Bedeutung dieses Kapitels im Folgenden erläutern.

2. Die vier Lebensphilosophien bei Meister Dogen
Der erste Absatz von “Das verwirklichte Universum“ im Shobogenzo lautet wie folgt:
“Wenn alle Dharmas als Buddha-Dharma (-Lehre gesehen werden), dann gibt es Illusion und Verwirklichung, gibt es Praxis und Handeln, gibt es Leben und Tod und gibt es Buddhas und gewöhnliche Menschen.
Wenn die unzähligen Dharmas alle nicht vom Selbst sind (und so gesehen werden), gibt es keine Illusion und keine Verwirklichung, keine Buddhas und keine gewöhnlichen Menschen und kein Leben und keinen Tod.
Die Wahrheit Buddhas übersteigt ursprünglich Überfluss und Knappheit und daher gibt es Leben und Tod, gibt es Illusion und Verwirklichung und gibt es gewöhnliche Menschen und Buddhas.
Und obgleich dies so ist, ist es nur, dass die Blüten fallen, obwohl geliebt und das Unkraut wuchert, obwohl ungeliebt.“
Beim genauen Lesen dieser vier Sätze können wir erkennen, dass jeweils vier verschiedene Methoden oder Lebensphilosophien dargestellt werden. Im ersten Satz wird klar gestellt, dass zwischen Illusion und Verwirklichung, zwischen Praxis und Handeln, zwischen Leben und Tod und zwischen Buddhas und gewöhnlichen Menschen unterschieden wird, wenn alle Dinge und Phänomene, also die Dharmas, auf der Grundlage einer idealistischen Methode des Denkens ausgedrückt und in der Lehre des Buddha-Dharma gedacht werden.
Im zweiten Satz wird dagegen eine andere Grundlage und Methode des Denkens gewählt. Es handelt sich hier um den vollkommen materialistischen Standpunkt, der wörtlich durch: "... alle nicht vom Selbst sind" gekennzeichnet ist. Dann gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen Illusion und Verwirklichung, Buddhas und gewöhnlichen Menschen oder Leben und Tod. Mit anderen Worten können ohne die subjektive Sicht die Bedeutungen dieses Unterschiedes gar nicht erkannt und gesagt werden, denn aus materialistischer Sicht kann man z.B. nicht von Illusion oder Verwirklichung, von Buddhas und normalen Menschen usw. sprechen.
Der erste und zweite Satz geben demnach die Weltanschauung und Sichtweise des Idealismus und Materialismus wieder und beide fallen in die Gruppe intellektueller verstandesmäßiger Philosophien. Sie sind bekannte Beispiele philosophischer Systeme, die durch Denken und Worte ausgedrückt und verstanden werden. Diese verstandesmäßigen Weltanschauungen und Philosophien sind aber etwas grundsätzlich anderes als die praktischen und wirklichen Dimensionen des obigen dritten und vierten Satzes des Kapitels “ Das verwirklichte Universum“ (Genjo Ko-an) von Meister Dogen.
Ich denke, dass der Buddhismus die einzige Lehre ist, welche die obigen zwei fundamental verschiedenen Lebensphilosophien vereint, auf die wir die vielen verschiedenen philosophischen Systeme in der Welt zurückführen können. Ich bin der festen Überzeugung, dass nur eine so umfassende Lehre wie der Buddhismus, der diese beiden völlig verschiedenen Grundlagen und Sichtweisen integriert, überhaupt in der Lage ist, das Ziel der Wahrheit zu erreichen. Anders gesagt, auch der Buddhismus kann den Weg zur Wahrheit nur zeigen, wenn er alle vier Lebensphilosophien miteinander verbindet und dies hat er zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte geleistet. Gautama Buddha fand diese Wahrheit im 6. und 5. Jahrhundert vor Christus. Eventuell könnte jemand behaupten, dass die Theorie der vier Lebensphilosophien nur von dem japanischen Meister Dogen entwickelt wurde. Wenn wir jedoch den historischen Zusammenhang im Auge behalten, ist es wirklich unmöglich zu denken, dass Meister Dogen und auch Meister Nagarjuna ohne die vorherige Existenz von Gautama Buddha diese Wahrheit hätten lehren können.
Meister Dogen sagt daher im obigen dritten Satz, dass Buddhas Wahrheit ursprünglich den Überfluss und die Knappheit überschreitet und dies bedeutet nichts anderes, als dass die buddhistische Wahrheit relative Vergleiche sowohl der verstandesmäßigen Dimension als auch der materiellen Messbarkeit überwindet. Die Bedeutung des dritten Satzes gehört in den Bereich des Handelns oder der Wirklichkeit. In einem solchen Zusammenhang konnte Meister Dogen klar sagen, dass es die wirkliche Existenz tatsächlich gibt, dass weiterhin das wirkliche Auslöschen, die Illusion, die wirkliche Erleuchtung, die gewöhnlichen Menschen und die wirklichen Buddhas, welche die Wirklichkeit erlangt haben, alle real vorhanden sind. Dies ist die Grundlage des buddhistischen Realismus.
Entsprechend wird im vierten Satz von Meister Dogen der Bereich der Philosophie ganz verlassen und die Wirklichkeit selbst direkt beschrieben. Dies wird durch die folgende Formulierung ausgedrückt: “ Und obgleich dies so ist, ist es nur, dass die Blüten fallen, obwohl geliebt und das Unkraut wuchert, obwohl ungeliebt“.
Diese Aussage bedeutet nichts anderes, als dass die Wirklichkeit ganz genau die Wirklichkeit selbst ist, ob wir dies mögen oder nicht. Meister Dogen verwendet für die vier Lebensphilosophien also eine Gliederung und Struktur von vier Begriffen: Idealismus, Materialismus, Handeln und Wirklichkeit.
Die Gliederung aller Kapitel im Shobogenzo folgt ebenfalls der Anordnung dieser vier Lebensphilosophien. Wenn wir diesen Schlüssel zum Verständnis nicht hätten, wären Meister Dogens Aussagen verwirrend, um nicht paradox und unlogisch zu sagen. Wir müssen also davon ausgehen, dass dies auch genau dem Universum entspricht und umgekehrt ist es vollständig unmöglich, die Gesetze des Universums ohne diese vier Lebensphilosophien überhaupt zu verstehen.
Auch in der europäisch-amerikanischen Kultur gibt es in neuerer Zeit eine ähnliche spezielle Methode des Denkens, die als Dialektik bezeichnet wird. Wir können daher sagen, dass die Struktur der vier Lebensphilosophien einer Dialektik in vier Phasen entspricht. Damit wird deutlich, dass mit diesen historischen Tatsachen auch in der europäisch-amerikanischen Kultur eine Dialektik von vier Phasen und damit das Zeitalter des Realismus begonnen hat.
Es wird berichtet, dass Gautama Buddha für seine erste Lehrrede zunächst überlegte, ob er die vier Lebensphilosophien seinen früheren Brüdern des asketischen Lebens erklären könnte. Er hatte vielmehr große Zweifel, ob diese Lehre seinen Zuhörern in der damaligen Zeit überhaupt klar zu machen sein würde. Sie verständlich auszudrücken, würde selbst für ihn als großen Lehrer zu schwierig sein. Wir leben jetzt jedoch im 21. Jahrhundert und sind wesentlich besser geschult auch komplizierte theoretische Zusammenhänge zu verstehen. So haben wir leichteren Zugang zu den vier Lebensphilosophien, die Gautama Buddha uns in seiner großen Güte übermittelt hat. Auf dieser Grundlage kann man es als außerordentlich glücklich bezeichnen, wenn nunmehr die hervorragende europäisch-amerikanische Kultur dem Buddhismus mit seinem großen Erfahrungsschatz begegnet.

3. Die vier Lebensphilosophien als konkrete Tatsachen

Die Lehre von den vier Lebensphilosophien ist nicht nur eine abstrakte Theorie des Buddhismus, sondern sie umfasst die realistischen Tatsachen in unserem täglichen Leben. Ich möchte die vier Lebensphilosophien als wirkliche Tatsachen daher an dem praktischen Beispiel der Planung und Realisierung eines industriellen Unternehmens erläutern:
a). Idealistischer Plan: Am Anfang eines industriellen Unternehmens muss der Unternehmer eine Planung des Gesamtzusammenhangs und seiner eigenen Aufgabe durchführen, die insgesamt Gewinn erbringen sollen. Die Unternehmen der Wirtschaft müssen Überschüsse erwirtschaften, sonst gehen sie Pleite. Aber dies ist natürlich keine leichte Aufgabe. Die modernen Industriegesellschaften unterliegen einem starken Wettbewerbsdruck, und die technologischen Entwicklungen laufen unglaublich schnell ab. Daher ist es eine schwierige Aufgabe, ein lebensfähiges, gewinnbringendes Unternehmen und die entsprechenden Arbeitsplätze zu planen und aufzubauen.
b). Materielle Bedingungen: Wenn jemand optimistisch an eine derartige Aufgabe heran geht, ohne die materiellen Bedingungen und Grundlagen geprüft zu haben, besteht die große Gefahr, dass er die Arbeit nicht fortsetzen kann und scheitert. Weil er nicht in einem romantischen Traum lebt, in dem die Ziele leicht zu erreichen sind, muss er in einer Gesellschaft mit starkem Wettbewerb pragmatisch vorgehen. Er muss daher die tatsächlichen verschiedenen materiellen Gegebenheiten genau prüfen. Wie viel Kapital kann er für seine Investitionen ansammeln? Ist es für ihn möglich und sinnvoll, die für den Beginn seines Geschäfts notwendigen Gebäude sowie den Grund und Boden zu erwerben? Wie ist die Anbindung an das Verkehrssystem für Menschen, Materialien und fertige Produkte? Ist es dem Unternehmer möglich, in der Umgebung Mitarbeiter mit geeigneten Fähigkeiten zu gewinnen? Ist die Versorgung mit Wasser und Elektrizität dort gesichert? Diese Fragen müssen jeweils umfassend und genau angegangen werden. Werden die auftauchenden Probleme vom Unternehmer nicht richtig gelöst, ist es nicht sinnvoll, dass er überhaupt mit seiner Arbeit beginnt. Nur mit einer guten Planung und ausreichenden Prüfungen aller materiellen Bedingungen kann seiner Aufgabe Erfolg beschieden sein. Gibt es noch irgendwelche fehlenden Bedingungen? Alle diese Fragen müssen gut durchdacht sein und angemessen beantwortete werden.
c). Umsetzen in die Tat: Die theoretische Planung und Prüfung der materiellen Bedingungen ist aber nicht die Hauptaufgabe zum Aufbau und Betrieb eines Unternehmens mit seinen Mitarbeitern. Was steht eigentlich an dessen Anfang? In der buddhistischen Lehre schätzen wir die Arbeit und das Handeln außerordentlich. Natürlich sind die theoretischen Überlegungen und Planungen auch wichtig, aber ohne das tägliche Handeln in der Industrie gäbe es nichts, was Produktion genannt werden kann. Die Produktion benötigt die gemeinsame Anstrengung und Kooperation aller, der Leitungsebene, der Direktoren, Mitarbeiter und Arbeiter in jedem Augenblick. Diese Anstrengungen müssen an jedem Arbeitstag erbracht werden und wenn diese Anstrengungen erfolgreich sind und Gewinn erwirtschaftet wird, kann das Unternehmen für die menschliche Gesellschaft sinnvoll arbeiten und Arbeitsplätze halten oder sogar neue schaffen. Ohne Zweifel können wir daher annehmen, dass das Wichtigste in unserem täglichen Leben die Arbeit und das Handeln selbst sind. Die Achtung der Arbeit und des Handelns sind ganz allgemein von größter Bedeutung in unserem täglichen Leben.
d). Achtung der Moral: Wir Buddhisten glauben im ursprünglichen Sinn an die wirkliche Existenz der Gesetze des Universums und wir haben den Glauben an die Einheit des Handelns im gegenwärtigen Augenblick mit dem Gesetz der Welt und des Universums. Meister Dogen schrieb im Kapitel 45 des Shobogenzo “Die vier Arten des sozialen Handelns eines Bodhisattvas“ (Bodaisatta-Shishobo) hierzu, dass den Lebensunterhalt zu verdienen und sorgfältig zu arbeiten ursprünglich nichts anderes ist als großzügig zu geben. Daher können wir davon ausgehen, dass unsere Anstrengung durch die Arbeit in einem Industriezweig nicht zuletzt auch einen klaren moralischen Wert haben.

4. Die vier Lebensphilosophien sind wirklicher als der intellektuelle Bereich

Ich schätze den Wert der intellektuellen Philosophien sehr, weil sie wegen ihrer Qualität gegenwärtig vorherrschend sind und sich in so ausgezeichneter Weise in der Weltgeschichte entwickelt haben. Wenn wir daher normalerweise daran denken, was Philosophie eigentlich ist, geht es fast immer um diese vorhandenen intellektuellen philosophischen Systeme. Im Buddhismus vertreten wir demgegenüber eine praktische Lebensphilosophie, die sich von dem reinen Verstand, also dem Intellekt unterscheidet. Wenn wir das Wort “praktische Philosophie“ verwenden, denken die meisten zunächst sicher auch an intellektuelle und verstandesmäßige Lehren. Im Gegensatz dazu verstehen wir im Buddhismus die praktische Lebensphilosophie so, dass sie nicht zu dem Bereich des Verstandes und Intellektes gehört, sondern sich auf die praktische Lehre bezieht. Daher unterscheiden wir im Buddhismus grundsätzlich zwei Arten von Philosophie, einerseits die theoretischen und intellektuellen und andererseits die praktischen und lebensnahen. Diese beiden sind in ihrer Dimension grundsätzlich verschieden.
Wir müssen daher wie folgt interpretieren: Die Philosophie des Leidens, also Idealismus und die Philosophie der Ansammlung, also Materialismus gehören in den verstandesmäßigen und intellektuellen Bereich, während die buddhistischen Lebensphilosophien der Selbststeuerung beim Handeln und der Moral, oder die Lehre der Wirklichkeit, zu den praktischen Philosophien gehören. Mit anderen Worten sollten wir annehmen, dass die Lehre des Leidens und der Ansammlung zu den intellektuellen Philosophien gehört. Bei den vier genannten Lebensphilosophien des Buddhismus wird also der Bereich des Verstandes mit dem der Praxis zu einer Einheit verschmolzen. Die beiden ersten Philosophien sind typisch für die westliche Kultur, während die zweite Gruppe der buddhistischen Kultur angehört. Beide müssen zu einer Einheit verbunden werden, um dem Leben und der Wirklichkeit gerecht zu werden.
Wie ich bereits erläutert habe, gibt es in der europäisch-amerikanischen Kultur eine neue Entwicklung, die wir als Existenzialismus, Philosophie des Lebens, Phänomenologie, Pragmatismus usw. bezeichnen, die ebenfalls eine deutliche Tendenz zum Realismus aufweisen. Ich erwarte daher, dass die westliche Kultur, die bisher weit gehend auf dem Idealismus und Materialismus beruht, sich jetzt in der neueren Zeit nachhaltig einem Realismus zuwendet. Daher besteht die große Möglichkeit, dass durch die Begegnung mit dem Buddhismus ein Zeitalter der Wirklichkeit anbricht. Ich erwarte weiterhin, dass die Lehre der vier Lebensphilosophien eine wichtige und starke Brücke werden wird, welche die großen intellektuellen westlichen Philosophien mit dem Buddhismus der Wirklichkeit verbindet. Damit kann die notwendige Verschmelzung der westlichen intellektuellen Kultur mit dem Realismus des Buddhismus und seiner ihm eigenen Kultur beginnen. Wenn wir diese Verbindung jedoch ablehnen, ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine fruchtbare Wechselwirkung der westlichen Kultur mit dem Buddhismus gelingt. Wenn eine solche Verbindung jedoch erfolgreich ist, kann auch das buddhistische Lehrsystem zum ersten Mal als Gesamtstruktur des Lebens und der Welt verstanden werden.
Es wird berichtet, dass Gautama Buddha selbst zögerte und es für unwahrscheinlich hielt, dass seine Lehre der vier Lebensphilosophien in der damaligen Zeit von seinen üblichen Zuhörern verstanden wurde, weil sie zu schwierig und unübersichtlich erschien. Es ist auch wirklich ganz natürlich, dass die meisten Zuhörer die Bedeutung dieser vier Lebensphilosophien zunächst nur schwer verstehen. Dies erscheint selbst heute im 21. Jahrhundert für viele Menschen zu gelten. Trotzdem halte ich für notwendig, und es hat für mich eine ganz wesentliche Bedeutung, dass diese Lehre der vier Lebensphilosophien verstanden wird, um die ganze buddhistische Wahrheit zu begreifen.

Montag, 8. Januar 2007

Philosophische Grundlagen

Da ich mein Leben lang an der Zusammenführung westlichen Denkens mit dem Buddhismus gearbeitet habe, möchte ich nun die philosophischen Grundlagen des Westens nach meinem Verständnis eines sehr interessierten Japaners kurz darlegen. Dies soll dann die Grundlage für die Brücke zum Buddhismus bilden. Die westlichen Philosophen werden hoffentlich Nachsicht mit mir haben, dass ich nicht die vielen Einzelheiten dieses Denkens ausbreiten kann und will. Es würde dann sicher auch viel zu kompliziert werden und für die meisten nicht mehr verständlich sein.

1. Wertschätzung des Idealismus und Materialismus
Obgleich der Buddhismus den einseitigen Idealismus und Materialismus kritisiert, sollten wir deren Wert aber insgesamt nicht gering schätzen. Beide Weltanschauungen und Philosophien haben die menschliche Kultur und Zivilisation ganz gewaltig vorangebracht und sind in vielen wichtigen Lebensbereichen in tausenden von Jahren entwickelt worden, so dass wir den historischen Wert von Idealismus und Materialismus als bedeutend ansehen müssen. Die Geschichte des Idealismus reicht vermutlich weit zurück bis zum Ursprung der Menschheit überhaupt, besonders wichtig ist jedoch der Bezug zum antiken Griechenland. Der bekannte griechische Philosoph Plato (427 bis 346 v. C. ) bestand darauf, dass sich alle Dinge und Phänomene dieser Welt von der Vernunft und den Ideen ableiten und dass auch die externe Welt, die wir wahrnehmen, nur Abbilder dieser Ideen sind. Um diese “Tatsachen“ nachzuweisen, benutzte er u. a. die universellen mathematischen Prinzipien in der Welt. Er bestand darauf, dass alle Dinge und Phänomene vernünftig sind und dass wir daher alles auf der Grundlage einer Theorie der Vernunft verstehen können. Ich denke, dass diese hohe Wertschätzung der Vernunft in Europa außerordentlich wichtig für die Entwicklung der gesamten westlichen Kultur war.
Der Idealismus verband sich dann mit dem Christentum, als es allgemein vom römischen Reich übernommen wurde und es wird gesagt, dass der bekannte Kirchenvater Augustinus auf dem philosophischen System von Plato aufbaute. Der berühmte mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin benutzte als Grundlage wiederum das philosophische System von Aristoteles, der Schüler von Plato war. In der späteren Zeit haben die Philosophen Decartes, Spinoza, Leibniz und andere ebenfalls eine starke Tendenz zum idealistischen Denken. Dann gab es in Deutschland eine kraftvolle philosophische Richtung von Kant, Fichte, Schelling, Hegel u. a.. Dies nennen wir den deutschen Idealismus, denn diese Philosophen haben das idealistische Denken und Weltbild in aller Klarheit und umfassend ausgearbeitet. Vor allem Hegel bestand darauf, dass alle Dinge und Phänomene dieser Welt Offenbarungen des Weltgeistes sind. Aber wie gesagt folge ich ihrer nach meiner Ansicht einseitigen Philosophie nicht.

2. Materialismus
Im 12. und 13. Jahrhundert bahnte sich jedoch ein großer Wandel in Europa an und daraus entwickelte sich die Renaissance. Vor dieser Zeit hatte die katholische Kirche z.B. festgelegt, dass die Erde eine feststehende Scheibe sei und dass die Sonne sowie die anderen Himmelskörper sich darüber bewegen. Einige Astronomen, u. a. Kopernikus, untersuchten jedoch Zeit und Ort des Sonnenlaufes genauer und entdeckten die wirkliche Bewegung und den Lauf der Sonne. Zu ihrer Überraschung stellten sie fest, dass ihre Messungen nicht mit der früheren Annahme übereinstimmen konnten, dass die Erde eine feststehende Scheibe sei und dass die Sonne sich bewegte. Sie stellten daher die Theorie auf, dass die Erde sich um die Sonne bewegt und dass diese selbst feststand. Durch diese Annahme konnten sie eine große Übereinstimmung der Bewegung von Erde und Sonne mit ihren Messdaten erreichen. Die Astronomen schlossen also daraus, dass sich die Erde bewegt und immer um die Sonne kreist.
Ihre Behauptungen standen nun im krassen Gegensatz zu den Dogmen der damaligen katholischen Kirche und diese forderte daher von ihnen, dass sie ihrer abweichenden Theorie abschworen. Die katholische Kirche verfolgte sogar die damaligen Astronomen und einige von ihnen wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Aber die wissenschaftlichen Tatsachen blieben natürlich Tatsachen und konnten auf die Dauer nicht unterdrückt werden.
Aufgrund dieser nicht zu unterdrückenden Fakten begannen die Menschen langsam ihr Denken zu verändern. Sie fingen an Fragen zu stellen und an den alten dogmatischen Aussagen zu zweifeln, die ohne oder sogar gegen die Vernunft behauptet wurden. Sie wollten die Dinge, Phänomene und Zusammenhänge dieser Welt auf der Grundlage ihrer eigenen Wahrnehmung und Überlegung verstehen. Damit hatte das Zeitalter der wissenschaftlichen Forschung begonnen. Später hat sich die Forschung und Wissenschaft außerordentlich stark entwickelt, und die verschiedensten Industrien wurden aufgebaut, sodass kapitalistische Gesellschaften entstanden. In der Folge entwickelten sich auch viele bedeutende historische Tatsachen, z.B. die Reformation, die Unabhängigkeit und Demokratie der USA, die französische Revolution, die industrielle Revolution und der erste Weltkrieg. Die Menschheit glaubte allgemein an die Kraft ökonomischer Werte, an Macht und Gewalt, große Industrien, gewaltige Vermögen und die materialistische Philosophie verdrängte weitgehend die idealistischen Weltanschauungen, die bis dahin vorgeherrscht hatten. Ohne diese Entwicklung wäre es für die Menschheit unmöglich gewesen, sich zu einer Gesellschaft von so großem ökonomischem Reichtum und zur Demokratie zu entwickeln. Ich glaube daher, dass auch die materialistische Philosophie von großem Wert für die menschliche Entwicklung war. Aber sie ist sicher zu einseitig.

3. Philosophie des Handelns und Existenzialismus
Ich nehme an, dass der Begriff "Philosophie des Handelns" vielen recht eigenartig erscheint. Diesen Begriff finden wir nämlich normalerweise in keinem Buch, keinem Artikel usw. und das liegt daran, dass diese Formulierung von mir selbst geprägt wurde.
Bei meinen Studien des Buddhismus, die ich seit mehr als sechzig Jahre durchführe, wurde mir immer klarer, dass dieser eine ganz besondere Lehre und auch eine umfassende Philosophie ist. Im Buddhismus ist nämlich das Handeln nicht nur eine idealistische Vorstellung oder eine materialistische äußere Sinneswahrnehmung, sondern darüber hinaus eine sehr reale Tatsache genau im gegenwärtigen Augenblick und dieses wirkliche Handeln in der Gegenwart ist die fundamentale Grundlage der buddhistischen Lehre.
Eine solche Vorstellung des "wirklichen Handelns" kann jedoch nicht nur im Buddhismus, sondern in neuerer Zeit auch in bestimmten westlichen Philosophien entdeckt werden.
Ich denke, dass z.B. der dänische Philosoph Kierkegaard von einem solchen Ansatz ausging. Er war ein sehr aufrechter Christ, aber bei der Betrachtung der vorhandenen starken Tendenzen zu materialistischen und politischen Ideen beschlich ihn die große Furcht, ob das Christentum dabei überhaupt weiter bestehen könne oder nicht. Daher versuchte er mit großer Kraftanstrengung, eine neue Philosophie zu entwickeln, die vor allem den Sinn hatte, das Christentum für ihn und andere zu retten. So entwickelte er eine Lehre, die auf der menschlichen Existenz im gegenwärtigen Augenblick aufbaute. Daher gehört seine Philosophie auch nicht zu idealistischem oder materialistischem Gedankengut.
Der deutsche Philosoph Nietzsche folgte dann Kierkegaards Richtung. Nietzsche hatte großes Interesse an der antiken griechischen Kultur und bewunderte deren Größe und geistigen Reichtum. Er schätzte die menschliche Freiheit und den menschlichen Willen außerordentlich und wollte sowohl den dualistischen Idealismus als auch den dualistischen Materialismus durch das wirkliche Handeln überwinden. Ich denke daher, dass Nietzsche als Philosoph in seinem Denken ebenfalls den Idealismus und Materialismus überwinden wollte und das Handeln als Grundlage seines Denkens nahm.
Die deutschen Philosophen Jaspers und Heidegger gingen in Richtung dieser Philosophie noch weiter voran, und machten die menschliche Existenz und den gegenwärtigen Augenblick zur Grundlage ihres Denkens, so dass sie das menschliche Sein auf dieser Basis des Handelns erheblich wirklichkeitsnäher erklären konnten. Heidegger schrieb z.B. das bedeutende Werk mit dem Titel "Sein und Zeit", das der wirklichen Zeit im gegenwärtigen Augenblick sehr nahe kommt.

4. Philosophie des Handelns und des Lebens
Der deutsche Philosoph Dilthey kritisierte, dass der Idealismus sich einseitig zu intellektuellem Denken entwickelt hatte und dass es ihm an Substanz mangelt, weil er mit dem wirklichen Leben immer weniger zu tun hatte. Er stellte die Forderung auf, dass es für die Philosophie notwendig ist, den wirklichen Tatsachen zu folgen, die auf dem Leben selbst beruhen. Er bemühte sich mit großer Kraft, die Spaltung der Philosophie in Idealismus und Materialismus zu überwinden. Er benutzte eine Methode der Intuition, um die kraftvollen wesentlichen Tatsachen des täglichen Lebens zu ergreifen. Ich denke, dass ein derartiges auf die Wirklichkeit bezogenes Streben ebenfalls zu den neuen Hauptströmungen der Philosophie gehört, die die wirklichen Tatsachen des menschlichen Lebens direkt mit intuitiven Methoden begreifen wollen. Es wird allgemein angenommen, dass Nietzsche, Bergson, Dilthey und Simmel ebenfalls dieser Strömung der Philosophie nahe stehen.

5. Philosophie des Handelns und Phänomenologie
Der deutsche Philosoph Edmund Husserl hatte ebenfalls erkannt, dass die idealistische und materialistische Philosophie zu stark dem intellektuellen Denken angehören, und er wollte sich davon unabhängig machen, um sich den wirklichen Phänomenen zuzuwenden. Als Phänomen bezeichnete er den Verbindungspunkt oder die Schnittstelle zwischen der subjektiven Person und den objektiven Gegebenheiten. In diesem Sinne untersuchte Husserl sehr sorgfältig verschiedenartige Phänomene. Nach meiner Einschätzung handelt es sich hierbei um ein Beispiel der realistischen Philosophie des Handelns, in dem Husserl die subjektive Person und die objektiven Gegebenheiten durch eine reale Einheit, die er Phänomen nannte, zusammenbrachte. Seine Leitlinie war: Zu den Phänomenen selbst!

6. Philosophie des Handelns und Pragmatismus
In den USA entwickelte sich daneben eine Philosophie, die Pragmatismus genannt wird. Zum Beispiel kritisierte der führende Philosoph des Pragmatismus Dewey, dass die bisherigen Philosophien sich mit sehr abstrakten Problemen beschäftigen und diese intensiv diskutieren, während sie dem täglichen Leben aber wenig Aufmerksamkeit schenken. Er untersuchte daher im Einzelnen die verschiedenen Dinge und Phänomene des allgemeinen täglichen Lebens. Er erkannte, dass das Wichtigste unseres täglichen Lebens das Handeln ist, das im gegenwärtigen Augenblick stattfindet. Er arbeitete weiter heraus, dass unser Handeln den Anforderungen des gegenwärtigen Augenblicks tatsächlich entsprechen und mit den Umständen übereinstimmen muss. Nach meiner Einschätzung ist der Pragmatismus in den USA eine wichtige philosophische Richtung des Handelns des 20. Jahrhunderts.

7. Buddhismus und die Lehre der Wirklichkeit (Realismus)
Wie ich bereits beschrieben habe, ist die menschliche Kultur und Zivilisation m. E. seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in das Zeitalter des Realismus eingetreten. Ich bin der festen Ansicht, dass bereits im alten Indien des 5. Jahrhunderts vor Christus tatsächlich ein philosophisches System der Wirklichkeit und des Realismus entwickelt worden ist und zwar von dem hervorragenden Genie und Lehrer Gautama Buddha. Zu jener Zeit wurde das Denken in Indien noch nicht schriftlich niedergelegt, so dass die damaligen Mönche die Lehrreden von Gautama Buddha auswendig lernten und diese später in Form der buddhistischen Sutras aufgeschrieben wurden. So wurden das buddhistische Denken und die Lehren von Gautama Buddha in die folgenden Zeiten weiter übermittelt. Dadurch sind die Lehren Gautama Buddhas bis in die heutige Zeit recht zuverlässig erhalten geblieben, sie wurden also in einer langen historischen Tradition authentisch übermittelt.
Dabei sind allerdings Unterschiede bei der Interpretation der buddhistischen Lehre entstanden, und es haben sich einige, zum Teil recht komplizierte Lehren und Philosophien entwickelt, so dass wir heute in der Tat von einer vielfältigen und zum Teil auch verwirrenden buddhistischen Philosophie sprechen können. Ich denke, dass es jedoch in der langen Geschichte des Buddhismus von 2500 Jahren mindestens zwei ganz hervorragende klare buddhistische Denker gegeben hat, nämlich den indischen buddhistischen Mönch Meister Nagarjuna und den japanischen Mönch Meister Dogen, auf die wir setzten können. Ich selbst bin von den Werken und Schriften Meister Dogens seit meinem 17. Lebensjahr außerordentlich fasziniert und habe seit über 60 Jahren fortlaufend diese Werke studiert, habe Vorträge gehalten und Seminare gegeben und Zazen praktiziert. Dabei ist mir klar geworden, dass der japanische buddhistische Mönch Meister Dogen die Lehre Gautama Buddhas als Lehre der Wirklichkeit, also als Realismus verstanden hat. Ob Gautama Buddha selbst seine Lehre als eine realistische Interpretation der Welt bezeichnet hat oder nicht, war mir zunächst allerdings nicht so klar. Vor 23 Jahren bekam ich dann jedoch die Gelegenheit, das Werk Mulamadhyamaka-karika (in Zukunft als MMK abgekürzt) in Sanskrit von Meister Nagarjuna zu studieren. Damals war es außerordentlich schwierig für mich, MMK zu analysieren und zunächst gelang es mir überhaupt nicht, den Inhalt zu verstehen, obgleich ich MMK wohl einhundert Mal gelesen habe. Da ich nach wie vor ein brennendes Interesse an der Lehre des MMK hatte, gab ich nicht auf und verstand dann Schritt für Schritt deren Bedeutung. Der wesentliche Grund, warum ich diese Lehre nicht verstehen konnte, lag darin, dass MMK auf der Grundlage des Realismus verfasst war, aber ich dieses bedeutsame Prinzip noch nicht erkannt hatte. Mir wurde dabei immer klarer, dass es sehr wichtig für uns ist zu erkennen, dass der Buddhismus eine Lehre ist, die vollständig auf der realen Wirklichkeit beruht. Dann können wir den Buddhismus wirklich verstehen und lernen, unser Leben mit Freude, Moral und Tatkraft zu führen.

Freitag, 5. Januar 2007

Was ist Erleuchtung?


1. Die Erleuchtung im Licht der modernen Wissenschaft
Erleuchtung ist die reale Erfahrung, dass wir genau hier und jetzt in der wirklichen Welt leben, die sich grundsätzlich von unserem Denken und von der Sinneswahrnehmung unterscheidet und beides weit übersteigt. Es ist eigentlich eine einfache Tatsache, dass wir genau in dieser Wirklichkeit des gegenwärtigen Augenblicks leben. Vor etwa 2500 Jahren fand Gautama Buddha diese einfache Tatsache und er lehrte dies viele Menschen, die die Wahrheit ernsthaft studieren und erlangen wollten. Diese Menschen strengten sich dadurch an, die Wahrheit direkt zu erfahren. Eine solche menschliche Anstrengung wurde in den vielen Jahrhunderten seit jener Zeit unternommen, denn Zazen, die große Praxis des Buddhismus, hat eine enorme Leistungsfähigkeit und Wirksamkeit, um die Menschen zur Wahrheit und zum Glück zu führen.
Durch die wissenschaftliche Forschung wurde glücklicherweise die Ursache erkannt, warum die Praxis des Zazen so wirkungsvoll ist. Damit wir glücklicher und gesünder werden, wurde dies wissenschaftlich herausgearbeitet und Klarheit geschaffen, warum die Praxis des Zazen uns so sehr hilft. Es ist wahrhaftig ein glücklicher Umstand, dass im 19., 20. und 21. Jahrhundert die moderne Psychologie und Physiologie sich so weit entwickelt hat und wir verstanden haben, dass in unserem Körper und Geist ein besonderes Nervensystem vorhanden ist, das vegetatives (oder auch autonomes) System genannt wird. Es ist in zwei zusammenwirkende Teilsysteme gegliedert, nämlich das sympathische und das parasympathische Nervensystem. Das sympathische Nervensystem ist eng mit unseren Funktionen des Denkens verbunden, das parasympathische System ist dagegen eng mit unseren Sinneswahrnehmungen gekoppelt. Wenn nun die Stärke des sympathischen und parasympathischen Systems gleich ist, ergibt sich ein im Buddhismus bekannter Zustand des inneren und äußeren Gleichgewichtes, der im Sanskrit shunyata genannt wird. Dieser ursprüngliche Zustand des Gleichgewichts des vegetativen Nervensystems ist also mit shunyata gemeint und dann sind Körper und Geist ruhig und ausgeglichen. Unsere physischen Bedingungen sind gesund, wir können aktiv handeln und unser Verhalten im täglichen Leben ist von Moral bestimmt. Wenn wir jeden Tag Zazen praktizieren, können wir dieses Gleichgewicht erhalten und auch im täglichen Leben umsetzen.
Gautama Buddhas Lehre ist auf der Grundlage der täglichen Praxis des Zazen entstanden. Die Gründe, warum wir Menschen im Buddhismus unsere ursprüngliche Gesundheit, unsere Aktivität und Moral seit über 2500 Jahren entwickeln und aufrechterhalten, kann nun also durch die westliche Wissenschaft klar nachgewiesen werden. Wir haben damit zum ersten Mal auch den wissenschaftlichen Beweis für den wahren Zustand des wertvollen Zazen.

2. Die Arten der Erleuchtung

In Bezug auf die Erleuchtung gibt es seit alten Zeiten eine Auseinandersetzung zwischen Tongo und Zengo. Tongo bedeutet, dass plötzlich eines Tages die Erleuchtung erscheint, wenn wir fortgesetzt für eine ziemlich lange Zeit Zazen praktizieren. Ton bedeutet schnell und go bedeutet Erleuchtung. Im Gegensatz dazu bedeutet bei Zengo der Begriff Zen allmählich und go bedeutet wiederum Erleuchtung. Zengo steht also für eine allmähliche und nicht plötzliche Erleuchtung. Bei Meister Dogen können wir jedoch feststellen, dass er sowohl Tongo als auch Zengo bestätigte. In seinem Werk Shobogenzo beschreibt er seine Lehre, die Shushou-itsuto genannt wird. Dabei bedeutet Shu die Praxis des Zazen und shou Erleuchtung. Weiterhin bedeutet itsu jemanden, der als vollkommen angesehen wird. Schließlich bedeutet to gleich. Daher ist also die Bedeutung von itsuto: vollständig dasselbe. Diese Idee der Einheit leitet sich ab von seinem buddhistischen Denken, also von der Lehre des Handelns. Meister Dogen besteht darauf, dass es allgemein gesprochen im Handeln keine Trennung zwischen dem Handeln als Tätigkeit selbst und dem Ergebnis als Erfahrung gibt. Dies bedeutet also, dass in der Lebensphilosophie des Handelns die sonst übliche Trennung von Praktizieren und Ergebnis als Erfahrung aufgehoben ist. Dieser Ansatz ist von größter Bedeutung, um die gesamte buddhistische Lehre zu verstehen, damit man nicht falschen Zielen nachjagt und falsche Erwartungen hat.
Meister Dogen vertritt in aller Klarheit die Ansicht, dass es keine Trennung zwischen dem Handeln und dem Ergebnis als Erfahrung gibt und daher sollten auch wir auf keinen Fall eine derartige Trennung vornehmen. Dies bedeutet also zusammengefasst, dass Praktizieren gleich Erleuchtung ist und Erleuchtung ist genau die Praxis des Zazen selbst.
Wenn wir dieses genauer bedenken, scheint es so, als ob die Idee von Zengo von Meister Dogen bei seinem Ansatz des Zazen vielleicht abgelehnt wird. Das ist aber nicht so. Er beschreibt z.B., dass Meister Joshu Jushin und Meister Rei-un Shigon eine solche Art von Erleuchtung in ihrem Leben erfahren hatten: Obgleich sie große Meister waren, vergingen bei ihnen mehr als 30 Jahre der Zazenpraxis, bevor sie die zweite Erleuchtung erlebten. Daher können wir ganz klar sehen, dass Meister Dogen zwei verschiedene Arten von Erleuchtung kannte: Eine direkte im Zazen für jeden, der richtig praktiziert und eine plötzliche Erleuchtung nach vielen Jahren der Übungspraxis. Für Meister Dogen gab es den Streit Tongo und Zengo also nicht.

Dienstag, 2. Januar 2007

Der Buddhismus ist die Lehre von der Wirklichkeit

Bis in die heutige Zeit wurde Buddhismus als eine Art Idealismus und manchmal sogar als Nihilismus angesehen. Aber wenn man z. B. die Werke des japanischen buddhistischen Mönchs Meister Dogen oder des indischen buddhistischen Mönchs Meister Nagarjuna genauer studiert, wird ganz klar, dass sie den Buddhismus als Realismus und Wirklichkeit hier und jetzt verstanden und darstellten. Wenn wir daher den Buddhismus nicht auf der Grundlage der Lehre der Wirklichkeit verstehen, können wir den Buddhismus niemals verstehen. Diese Wirklichkeit gibt den Menschen tiefe Freude am Leben im Hier und Jetzt und gibt die Kraft, das Leiden zu überwinden

1. Überwinden des einseitigen Idealismus und Materialismus
Zunächst möchte ich anmerken, dass im Folgenden Sanskrit-Begriffe in normaler lateinischer Schrift wiedergegeben werden, damit im Blog keine Unklarheiten durch unleserliche und irreführende Zeichen entstehen.
Wenn wir annehmen, dass der Buddhismus eine Religion ist, die an die wirkliche umfassende Existenz dieser Welt glaubt, ergibt sich zwangsläufig, dass wir sowohl den einseitigen Idealismus als auch den engen Materialismus ablehnen und überwinden müssen. Die buddhistische Lehre von der Wirklichkeit ist tatsächlich vom Idealismus und Materialismus unabhängig, so dass wir keine einfache Koexistenz mit diesen westlichen Philosophien annehmen können. Daher sagte u. A. der japanische Meister Bokuzan Nishi-ari (1821-1910), ein früherer Abt des Soji-ji Tempels, in seinem Buch mit dem Titel "Shobogenzo Keiteki" oder "Öffnen der Wahrheit des Shobogenzo", dass Materialismus (Danken-Gedo) und Idealismus (Joken-Gedo) die Feinde des Buddhismus sind! Meister Nishi-ari studierte gründlich den Buddhismus in Japan vor der so genannten Meiji Restauration (1867), also bevor es sich dem westlichen Einfluss weit öffnete. Wir können davon ausgehen, dass es früher tatsächlich die ganz klare Erkenntnis gab, dass der Buddhismus auf keinen Fall mit dem Idealismus oder Materialismus gleichgesetzt werden kann. Es muss auch betont werden, dass manche Materialisten den buddhistischen Realismus mit ihren eigenen Vorstellungen und Ideologien gleichsetzen, aber eine solche Interpretation des Buddhismus ist vollkommen falsch. Weil der Materialismus keine spirituellen Werte oder Bedeutungen, also keinen spirituellen Sinn anerkennt, unterscheidet er sich grundsätzlich von der buddhistischen Lehre der Wirklichkeit, der gerade spirituelle Werte, den Sinn des Lebens und die Moral akzeptiert und sehr hoch schätzt. Daher müssen wir in aller Deutlichkeit den Materialismus vom buddhistischen Realismus abgrenzen. Im chinesischen und japanischen Buddhismus benutzen wir die beiden Worte Danken-Gedo und Joken-Gedo und grenzen sie entsprechend fundamental von der buddhistischen Lehre ab; diese Begriffe bedeuten wie gesagt Materialismus und Idealismus

2. Was ist Erleuchtung?
Wenn wir im Buddhismus darüber nachdenken, was eigentlich Erleuchtung ist, so kommen wir zu dem Schluss, dass es unsere umfassende Erfahrung in der Wirklichkeit und Wahrheit ist. Wir leben dann genau und tatsächlich in der wirklichen Welt und nicht nur in einer Scheinwelt des Geistes oder der äußeren Materie. Wir leben also nicht im Bereich des Verstandes oder der Wahrnehmung, denn dies ist niemals die volle Wirklichkeit. Und dadurch, dass wir häufig nicht in der großartigen Wirklichkeit selbst leben, machen wir viele Fehler und leiden deswegen so häufig in unserem Leben..
Ich vermute, dass manche vielleicht zweifeln, dass eine solche Tatsache von jedem Menschen ganz einfach erkannt werden kann. Aber ich glaube tatsächlich, dass es viele gibt, die eigentlich subjektiv annehmen, dass sie wesentlich in der Welt des Geistes leben und dass es auch viele gibt, die subjektiv meinen, wesentlich in der Welt der äußeren Materie und Form zu leben. Wenn wir weiterhin darüber nachdenken, warum sich diese etwas eigentlich doch sehr seltsame Scheinwelt in den Menschen festgesetzt hat, müssen wir zunächst feststellen, dass die wirklichen Ursachen hierfür vor dem 20. Jahrhundert gar nicht erkannt werden konnten. Denn erst im 20. Jahrhundert haben sich die Wissenschaft und Forschung in der Psychologie und Physiologie so weit entwickelt, dass wir klarer sehen können.
Glücklicherweise wurde im 20. Jahrhundert mit der Weiterentwicklung der menschlichen Kultur Klarheit darüber gewonnen, dass es im menschlichen Körper und Geist ein bestimmtes Nervensystem gibt, das vegetatives oder auch autonomes Nervensystem genannt wird. Dieses gliedert sich in zwei zusammenwirkende Teile, nämlich das sympathische und das parasympathische Nervensystem. Wie wissenschaftlich erwiesen wurde, ist das sympathische Nervensystem stark mit der menschlichen Fähigkeit zum Denken und das parasympathische Nervensystem mit der menschlichen Fähigkeit der Wahrnehmung verbunden. Wenn jemand also ein starkes sympathisches Nervensystem hat, neigt er dazu, eine Persönlichkeit mit starken Idealen und vielen Ideen und Gedanken zu sein und er hat daher subjektiv die Vorstellung, dass er in einer Welt des Geistes lebt. Wer demgegenüber ein stärkeres parasympathisches Nervensystem hat, neigt dazu, eine materialistische Persönlichkeit zu sein und er hat im Allgemeinen subjektiv die Vorstellung, dass er in einer Welt der Materie und der äußeren der Formen lebt. Daraus ergibt sich, dass ein stärkeres sympathisches oder parasympathisches Nervensystem maßgebend dafür ist, ob wir eher Idealist und Ideologe oder eher ein Materialist sind. Dies mag für viele überraschend und zu einfach sein, aber ich bin fest davon überzeugt und werde diesen Zusammenhang noch genauer erläutern und begründen. Vor allem geht es darum, wie wir unser Gleichgewicht zurück gewinnen und wie wir dann den direkten Zugang zur heilenden Wirklichkeit und Wahrheit in unserem täglichen Leben bekommen.