Über mich

Mein Bild
Meister Nishijima praktiziert Buddhismus seit über 60 Jahren. Er war Schüler von Meister Kodo Sawaki, einem japanischen umherziehenden Priester, der berühmt dafür war unermüdlich zu betonen, dass die Praxis des Zazen ihren richtigen zentralen Platz im Buddhismus erhält und der selbst intensiv praktizierte. Meister Nishijima wurde von Meister Renpo Niwa als Priester ordiniert, der später als Abt den Zentraltempel des Soto-Buddhismus leitete. Nishijima Roshi hat viele Bücher über Buddhismus u.a. von Dogen sowohl in Japanisch als auch in Englisch geschrieben. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren hat er in Japanisch und Englisch viele Vorträge gehalten, Seminare und Sesshins geleitet sowie genaue Anweisungen zum Buddhismus und vor allem zum Zazen gegeben. Deutsche Fassung: Yudo J. Seggelke

Dienstag, 28. Januar 2014

Kapitel 20 Untersuchung der umfassenden Gesamtheit (Samagri pariksha) Nagarjuna, MMK, Teil 1


Aus meiner Sicht sind fast alle philosophischen Systeme nur intellektueller Natur und vernachlässigen das praktische Handeln, die Erfahrung, das menschliche Erleben und nicht zuletzt das Gleichgewicht und die intuitive Klarheit des Buddhismus. Den Buddhismus nenne ich daher die Philosophie der umfassenden Wahrheit im Gegensatz zur intellektuellen Philosophie des Denkens und der Sprache im herkömmlichen Sinne.

Besonders die westliche Philosophie basiert auf dem intellektuellen Denken oder der Sinneswahrnehmung, die aber letztlich auch ihre Grundlage im intellektuellen Verständnis des Gehirns hat. Wir müssen aber den Bereich des Intellekts überschreiten und die Erfahrung, das Handeln und vor allem das meditative Gleichgewicht einbeziehen, um zu einer Philosophie der umfassenden intuitiven Vernunft und Klarheit zu gelangen. Dies ist für die moderne jetzige Gesellschaft von zentraler Bedeutung, und aus meiner Sicht ist die Zeit jetzt reif dafür, um die gravierenden Missverständnisse zwischen Theorie und Praxis zu überwinden.

Das umfassende intuitive Verstehen aus unserer menschlichen Mitte und Balance, ist der Kern der buddhistischen Lehre. Dabei ist vor allem zwischen der wahren umfassenden Vernunft und den angestrebten Zielen und Ergebnissen zu unterscheiden, die dem Bereich der Ideen und des Intellekts angehören.

Vers 1
Für ein umfassendes Verständnis der Welt und unseres Lebens ist es notwendig, dass die intuitive Vernunft als Teil der Vier Edlen Wahrheiten Buddhas wirksam ist. Die umfassende Intuition ist wesentlicher Inhalt der Wirklichkeit und zentral für die buddhistische Lehre. Die intuitive Vernunft übersteigt intellektuelles Denken bei weitem und ist unbedingt notwendig, um essentielle Zusammenhänge und Wahrheiten im psychischen und vor allem spirituellen Bereich zu erfassen.

Demgegenüber haben Ergebnisse, die durch unser Bewertungs-Denken gekennzeichnet sind, nur eine untergeordnete Bedeutung. Aus meiner Sicht besteht der Unterschied zwischen der Wirkung nach dem Kausalgesetz und dem angestrebten und gedachten Ergebnis genau darin, dass die Wirkung intellektuell und emotional unbewertet also einfache Realität ist, während das Ergebnis genau durch Denken und Emotionen, z. B. Gier, gekennzeichnet werden kann.

Vers 2
Die Vernunft durchdringt die Vierfache Edle Wahrheit der Welt und des Lebens und dadurch gibt es das intuitive Begreifen, das über intellektuelles Denken hinausgeht.

Wenn wir klar erkennen und überwinden, dass angestrebte Ergebnisse nur dem intellektuellen Denken entspringen und benutzt werden, um ein oft vordergründiges Verstehen der undurchsichtigen Situationen der Welt zu ermöglichen, hat das intuitive Begreifen durch die Vernunft sich verwirklicht.

Vers 3
Wenn wir uns über das intuitive Erfassen und Begreifen der Wirklichkeit im Klaren sind gibt es keinen Raum für bewertende und meist fehlerhafte erstrebte Ergebnisse.

Die Philosophie der umfassenden buddhistischen Wahrheit muss von der Intellektualität in der weltlichen Kultur unterschieden und darf nicht vermischt und verwechselt werden. Bei einer solchen fälschlichen Vermischung kann die umfassende Wirklichkeit nicht mehr erkannt werden.

Vers 4
Die Vorstellungen und Konzepte der Vier Edlen Wahrheiten und die Konzepte der der Vernunft sind etwas anderes als die Wirklichkeit.

Demgegenüber gibt es das ganzheitliche intuitive Erfassen die Wirklichkeit, in der die Vernunft auch und gerade die gesamte Vierfache Wahrheit durchdringt. Das ganzheitliche Erfassen unterscheidet sich fundamental von vorgestellten Ergebnissen.

Vers 5
Für ein bestimmtes Ergebnis werden oft scheinbare Gründe und eine scheinbare Logik behauptet; die wirklichen Zusammenhänge werden dabei unterdrückt.

Daraus entsteht eine Situation des gespaltenen Geistes: Es gibt einmal die wirklichkeitsgetreue Verbindung zu den verursachenden Faktoren und zum anderen eine Scheinlogik, die aber nicht der Wirklichkeit entspricht.

Nâgârjuna ist der festen Überzeugung, dass die Natur und die Welt von Vernunft durchdrungen und von ihr gesteuert werden. Eine Scheinlogik, die vom menschlichen Geist fälschlich erdacht wurde, entspricht aber nicht dieser Wirklichkeit.

Vers 6
Die Wirkung der Vernunft in der Welt ist unabhängig von den individuellen Menschen, die in derselben Situation oft ganz unterschiedliche logische Verknüpfungen für richtig halten. Sie sind dann fest davon überzeugt, dass dies die Wahrheit sei, aber das ist nicht richtig und nur subjektiv.

Insbesondere wird die wahre Vernunft nicht von solchen Ergebnissen gesteuert, die den Menschen angenehm oder unangenehm erscheinen.

Die wahrte Vernunft wird im Zustand des Gleichgewichtes erkennbar. Sie wird nicht durch die Emotionalität und durch Affekte beeinflusst.

Ein angenommenes oder abgelehntes Ergebnis erzeugt in dem menschlichen Geist oft eine falsche logische Kette, sodass die wirklichen Ursachen und Zusammenhänge verdeckt werden.

Vers 7
Wenn wir in der Lage sind, ganzheitlich intuitiv zu erkennen und zu erfassen, können wir klar sehen, dass Ergebnisse die Erfindungen des Denkens und der Emotionen sind.

Die wirklichen Zusammenhänge ergeben sich aus der wahren Vernunft, die als Kraft in der Welt wirksam ist. Unser menschlicher Geist erkennt diese Kraft als Gerechtigkeit, Wahrheit, Gott, usw.

Vers 8
Bevor die ganzheitliche intuitive Vernunft verwirklicht ist, kann es so scheinen, als ob das Ergebnis die Wirklichkeit ist. Zweifellos sind gewöhnliche Menschen ohne die genannte geistige Klarheit dieser Meinung, meist ohne sich dessen bewusst zu sein.

Wenn die Vernunft im Gleichgewicht der Mitte ist, wird klar, dass Ergebnisse nicht aus der reinen Vernunft abzuleiten sind, sondern gerade irrational sind.

Vers 9
Wenn wir Ergebnisse mit der Vernunft analysieren und selbst im Gleichgewicht sind, können wir erkennen, was Wirklichkeit und was Einbildung und Ideen sind. Dann können Vernunft und die so durchschauten Ergebnisse nebeneinander bestehen.

Schon bevor die Vernunft sich durchgesetzt hat, ist sie in einem gewissen Umfang wirksam und wir haben eventuell schon ein Gefühl dafür, ob bestimmte Ergebnisse mit der Vernunft im Widerspruch sind oder nicht.

Vers 10
Abgelehnte Ergebnisse verlieren ihre Bedeutung im Zustand des Gleichgewichts auf dem Mittleren Weg.

Die Vernunft ist niemals von subjektiven Fixierungen abhängig. Sie kann zwar vorübergehend durch den fehlgeleiteten Geist unterdrückt werden aber der Mensch befindet sich dann nicht im Gleichgewicht und besitzt keine ganzheitliche intuitive Vernunft.

Wenn intensiv angestrebte Ergebnisse fehlschlagen und nicht erreicht werden, kommt es oft zu Depressionen und sehr negativen Emotionen. Die Menschen fühlen sich dann als Verlierer und verlieren ihr Selbstwertgefühl. Im Zustand des Gleichgewichts treten allerdings solche Wirkungen nicht auf.

Wenn wir Erfolge haben und die angestrebten Ergebnisse erreichen, ist es sicher zu begrüßen, befreit aber den Menschen nur sehr begrenzt. Die Vernunft als geistige Klarheit ist von solchen Erfolgen unabhängig.