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Meister Nishijima praktiziert Buddhismus seit über 60 Jahren. Er war Schüler von Meister Kodo Sawaki, einem japanischen umherziehenden Priester, der berühmt dafür war unermüdlich zu betonen, dass die Praxis des Zazen ihren richtigen zentralen Platz im Buddhismus erhält und der selbst intensiv praktizierte. Meister Nishijima wurde von Meister Renpo Niwa als Priester ordiniert, der später als Abt den Zentraltempel des Soto-Buddhismus leitete. Nishijima Roshi hat viele Bücher über Buddhismus u.a. von Dogen sowohl in Japanisch als auch in Englisch geschrieben. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren hat er in Japanisch und Englisch viele Vorträge gehalten, Seminare und Sesshins geleitet sowie genaue Anweisungen zum Buddhismus und vor allem zum Zazen gegeben. Deutsche Fassung: Yudo J. Seggelke

Mittwoch, 26. Juni 2013

Untersuchung der Einheit von Handeln und Verhalten des Menschen (Karmakaraka pariksha) Nagarjuna, MMK, Kapitel 8


Meister Nagarjuna untersucht im Hauptteil des MMK in den Kapiteln 8 bis 21 das Handeln und Handeln des Menschen in dieser realen Welt. Er warnt dabei vor Abstraktionen und Ideologien wie Ewige Existenz, unveränderte Dauerhaftigkeit und dem isolierten Ich (Atman). Das Handeln und der Begriff Karma haben im Buddhismus schon immer eine zentrale Bedeutung gehabt. Aber häufig wird Karma verengt verstanden, wie gutes oder schlechtes Karma, zukünftiges Leben des Menschen insbesondere nach der Wiedergeburt usw.. Schlechtes Karma hat danach eine schlechte Wiedergeburt und ein schwieriges Leben als Mensch oder sogar als Tier zur Folge. Gutes Karma bewirkt das Gegenteil und führt danach letztlich über mehrere Wiedergeburten zum Nirvana, sodass der leidhafte Kreislauf des Lebens beendet wird. Aber Nirvana bedeutet nach Nagarjuna Befreiung von Ideologien und materiellen Abhängigkeiten wie z. B. Gier und Habsucht, auch und gerade in diesem Leben. Und diese Befreiung ist unauflösbar mit Handeln verbunden, Denken allein reicht nicht

Nagarjuna beschäftigt sich sehr viel präziser mit dem Handeln als üblich und hält eine Verkürzung auf die Frage der Wiedergeburt für völlig unzureichend.

In der westlichen Philosophie haben wir die beiden Hauptströmungen des Idealismus also des Gedachten und der Gehirntätigkeit auf der einen Seite und des Materialismus also der äußeren Form und der materiellen Aspekte dieser Welt auf der anderen Seite. Beide sind zwar weit entwickelt aber einseitig und ungeeignet, um das wirkliche Leben philosophisch angemessen zu erfassen. Eine Philosophie des Handelns ist im Westen schwer vorstellbar, obgleich doch Aktivität und Handeln einen so hohen Stellenwert in der westlichen Kultur und Technik haben.

Durch die genaue Untersuchung der Theorie und Praxis des Handelns kann der Buddhismus daher für den Westen erhebliche realistische Verbesserungen der Lebensverständnisse erbringen. Außerdem ist Handeln wesentliche Grundlage des Erwachens und der Erleuchtung, die sich weder durch Idealismus noch durch Materialismus verwirklichen lassen.

Vers 1
Ich unterscheide hier, ob es sich beim Handeln um bewusste Absicht und Ergebnisorientierung handelt oder nicht. Das einfache Tun und Handeln, bei denen die Absicht entweder überhaupt keine Rolle spielt oder unwichtig ist, möchte ich daher als Handeln bezeichnen und davon absichtsvolles Verhalten und zweckhaftes Benehmen abgrenzen. Bei dem Begriff Verhalten schwingt auch die Bedeutung von „Wohlverhalten“ im Sinne von Konventionen und Ethik mit. Es geht also auch um gesellschaftlich übliches und zugelassenes Benehmen und Verhalten.

Menschen und Dinge werden von Nagarjuna nicht als statische und wesentliche Entitäten verstanden, sondern es geht um das Handeln als solches. Insofern ist der Mensch daher Träger der Handlungen und ist kein dauerhaftes abgegrenztes Ich als unveränderliches Subjekt. Damit wird ein radikaler Paradigmenwechsel vollzogen, bei dem nicht mehr der Mensch als Entität und Person im Mittelpunkt steht, sondern seine Handlungen.

Das äußere Verhalten des Menschen ist die externe Seite des Handelns. Es gibt also eine äußere Seite des Handelns, die wir formal auch beobachten können und eine andere Seite, die das Handeln als solches betrifft.

Wirkliche Handlungen sind niemals abstrakt, auch wenn wir sie in Worten formulieren und Vorstellungen dazu haben. Dieses können wir als abstrakte Vorstellung des Handelns bezeichnen, aber wir müssen beachten, dass in der Wirklichkeit die abstrakte und konkrete Seite des Handelns eine Einheit bildet.

Besonders im Westen haben wir meist ein Weltbild, dass die Dinge dieser Welt mehr oder minder dauerhaft und unabhängig bestehen, also vom Handeln unabhängig sind. Dies ist eine sehr eingeengte Sichtweise, die der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Im Buddhismus lehnen wir eine solche Welt der Dinge und Ideen ab und gründen die wahre Lebensphilosophie auf das Handeln und Entstehen im gegenwärtigen Augenblick. Das Handeln kann niemals von der Welt verschieden sein. Die buddhistische Lehre und Praxis ist daher aus meiner Sicht sehr viel umfassender und realitätsnäher als der westliche Idealismus und Materialismus.

Besonders deutlich wird das bei Rene Descartes, der behauptet: „Ich denke, also bin ich.“ Auch der Materialismus, der sich nur auf Wahrnehmung und materielle Zusammenhänge stützt, kann die Wirklichkeit nicht umfassend beschreiben.

Im Buddhismus kann man formulieren:
„Ich handele, deshalb existiert das Universum.“
Dabei darf das Ich nicht individualistisch verstanden werden. Besser wäre eine Formulierung:
„Handlung ereignet sich, daher existiert das Universum.“
Das klingt sicher für westliche Ohren befremdlich, trifft aber den Kern der umfassenden buddhistischen Lehre und Praxis.

Danach können wir wirkliches Handeln im Augenblick und das wirkliche Universum nicht trennen, denn beides ist eine Einheit und ganz genau die Wirklichkeit.

Dieser Vers beschreibt den Kern des Buddhismus: Die Wirklichkeit ist eine Einheit von wirklichem Handeln im gegenwärtigen Augenblick und der wirklichen Welt selbst. Die Wirklichkeit ist total verschieden von abstrakten Überlegungen und Konzepten, oder von der externen Sichtweise des äußeren Verhaltens.

Vers 2
Wenn die Handlung in der realen Welt überhaupt nicht vorhanden ist, gibt es auch keine Beziehung zum konkreten Handeln. Dies gibt es häufiger, wenn man z. B. an hypothetische Situationen denkt und die klare Abgrenzung zur Wirklichkeit vergisst.

Selbstverständlich sind alternative Denkprozesse und Planungen für die Zukunft sinnvoll. Sie sollten so konkret und realistisch wie möglich sein, aber sie sind noch nicht das Handeln selbst. Wenn nicht gehandelt wird, ist auch die Vorstellung eines handelnden Menschen hypothetisch und meistens bedeutungslos oder sogar gefährlich.

Vor allem ist es sinnlos, das Handeln von dem Menschen, der handelt, zu trennen: „Wir sind unsere Handlungen“. Wenn wir uns klar darüber sind, was die abstrakte Welt ist und was konkretes Handeln ist, besteht die Möglichkeit, dass beides eine Einheit bildet.

Aber es ist nicht möglich, dass wir das Handeln in seiner ganzen Fülle und Breite intellektuell verstehen. Dasselbe gilt für den Menschen, der handelt, denn in der Wirklichkeit ist das Handeln intellektuell nicht zu verstehen, aber beides existiert als Einheit.

Vers 4
Nagarjuna beschreibt hier das Handeln genauer und sagt, dass wir aufrichtig, ehrlich und offen beim Handeln sein sollen. Ist das nicht der Fall, erkennen wir weder, wie und wann die Handlung vollendet ist, noch können wir uns über die wahren Ursachen klar werden.

Das Gleiche gilt für die physikalische Seite des Handelns, die genauso zur Einheit gehört. Es kommt also nicht zuletzt auf die ganz genaue Beobachtung des Handelns bei sich und anderen an. Dies ist besonders bei der Ausübung von Kunst z.B. der Musik oder beim Sport offensichtlich und gilt für jede Form der Feinkoordinierung.

Vers 5
In dieser Welt gibt es Prozesse, die dem Gesetz des Universums folgen und solche, die diesem Gesetz nicht folgen. Wenn das wirkliche Handeln nicht existiert, kann dies nicht wahrgenommen werden.

Wenn die Welt und das Universum nicht wirklich sind, kann ein Ergebnis des Handelns, das konkret erzeugt wurde, nicht klar wahrgenommen werden. Es gibt ebenfalls keine klare Wahrnehmung für die nicht-reale Welt, die sich nicht an das Gesetz des Universums hält.

Wir neigen häufig dazu, die Gesetze des Universums zu negieren z.B. die naturwissenschaftlichen Gesetze.

Nagarjuna spricht in diesem Vers das Ergebnis des Handelns an, das wörtlich übersetzt Frucht heißt. Bei der Karma-Lehre und der Wiedergeburt im alten Indien kam der Theorie des Ergebnisses beim Handeln eine zentrale Bedeutung zu. Davon wird im Folgenden noch die Rede sein.

Vers 6
Das höchste Glück und die höchste Zufriedenheit in unserem Leben verwirklichen sich nur, wenn wir einen klaren Sinn für die Realität bei unseren Handlungen haben.

Dazu gehört nicht zuletzt Klarheit in Ethik und Moral beim Handeln. Die Idee allein, ohne Anhaftung zu sein, und auch die Vorstellung eines edlen Zieles reichen nicht aus für glückliches Handeln und Leben. Gerade überzogene unrealistische Ziele, die nicht mit dem Handeln überstimmen, sind oft die Ursache für Unglück bei uns selbst und anderen.

Vers 7
Die Wirklichkeit ist kein dauerhafter starrer Zustand, auf dessen Grundlage sich Handeln vollzieht. Das Umgekehrte ist richtig: Die Einheit vom Konkreten und Abstrakten des Handelns ist die Wirklichkeit, die auf dem Handeln im Augenblick beruht. Die Wirklichkeit hat keine dinghafte Natur, die dauerhaft ist.

Abstrakte Ideen allein können niemals Wirklichkeit sein, und die ideelle und materielle Seite des Handelns und der Wirklichkeit bilden immer eine Einheit.

Vers 8
Wenn wir die Welt in Abstraktes und Materiell/Konkretes unterteilen und davon ausgehen, dass dies zwei völlig verschiedene Dimensionen sind, kann es keine Beziehung zwischen dem Abstrakten und dem Materiellen geben. Das bedeutet, dass abstrakte Ideen und Vorstellungen nicht das Produkt der materiellen Seite sein können. Es gilt auch das Umgekehrte, dass die materielle Sicht und Seite dieser Welt von sich aus nichts Abstraktes, z.B. spirituelle Bereiche erzeugen kann.

In der wirklichen Welt geht es jedoch um das Handeln und nicht um den Glauben und die Vorstellungen über Ideelles und Materielles. Sogar moralische Fehler können nur durch das Handeln von Menschen entstehen. Wenn wir nur physisch materiell denken, gibt es allerdings keine Fehler und Sünden. Das ist nicht zu vertreten. Umgekehrt erzeugen keine abstrakten Fehler und Sünden einen konkreten Menschen, der sie begehen könnte. Handeln ist immer eine Einheit von Abstrakten und Konkreten.

Vers 9
Weder das Absolute allein noch das Materielle allein kann die reale Welt erzeugen. Diese ist immer eine Einheit von Abstraktem und materiell Konkretem.

Die Wirklichkeit kann daher niemals durch Abstraktes wie die mentale oder spirituelle Seite des Menschen erzeugt werden. Das Gleiche gilt für die materielle Seite des Lebens und der Welt, die niemals eine wahre Grundlage der Wirklichkeit sein kann. Die Wirklichkeit kann nicht auf eines der beiden nämlich das Abstrakte oder Materielle reduziert werden.

Handeln oder das Verhalten eines Menschen vollzieht sich unmittelbar im Augenblick und kann nur unvollständig mit Worten beschrieben werden. Dies ist insbesondere im Augenblick des Handelns selbst unmöglich. Gleiches gilt für das Denken, das im Allgemeinen vor oder nach dem Handeln stattfindet. Mentale Gedanken und Bilder sind viel langsamer als das Handeln im Augenblick.

Vers 10
Nagarjuna betont noch einmal, dass die Wirklichkeit von uns selbst und von der Welt nicht durch abstrakte Spiritualität erzeugt wird. Sie ist vielmehr die Einheit der Dinge und Phänomene, die direkt vor uns sind, und dem Abstrakten also dem Ideellen der Kreativität z.B. in der Kunst oder im Spirituellen.

Er stellt die Praxis des Handelns in den Mittelpunkt des zweiten Verses, das unmittelbar direkt und viel schneller als das Denken abläuft. Die Wirklichkeit des Handelns in der Gegenwart, und zwar genau im Augenblick, ist etwas fundamental Anderes als die Erinnerung an Vergangenes und die Erwartung des Zukünftigen.

Vers 11
Die Welt als Realität bewegt sich genauso, wie sie ist und zwar in der Einheit des Abstrakten und Materiell-Konkreten. Und Beides verwirklicht sich im Handeln selbst.

Diskussionen und Überlegungen, und seien sie noch so klug und tiefgründig, können nicht gleichzeitig mit dem Handeln im Augenblick vor sich gehen. Dazu ist der Augenblick viel zu kurz. Und selbst erweitertes intuitives Verstehen kann erst nach dem Handeln formuliert und kommuniziert werden.

Im menschlichen Gehirn bleiben gewissermaßen mentale und intellektuelle Rückstände des Handelns selbst gespeichert, die Grundlage und Inhalt der nachfolgenden Diskussion sind. Wirkliche Kommunikation ist allerdings mehr als nur der Austausch von erinnerten Informationen, sondern ist wechselseitige Anregung der kommunizierenden Menschen. Auch solche Kommunikation hat eine andere Qualität als die Wirklichkeit des Handelns im Augenblick, obgleich sie viel zur Klärung und Erweiterung des Selbst beitragen kann.

Vers 12
Verhalten bedeutet eine Verallgemeinerung der vielfältigen Handlungen, die wir generell oder aber auch in einer bestimmten Situation durchführen. Insofern sind Handeln und Verhalten miteinander unlösbar verbunden. Allerdings sind dies verschiedene Begriffe, mit unterschiedlicher Breite der Bedeutungen. Handeln ist das konkrete Augenblicks-bezogene, während Verhalten eher generalisiert und eventuell sogar bewertend ist.

Handeln ist immer eine Einheit im Augenblick. Es ist nicht gespalten in verschiedene Teile und schon gar nicht von dem mitlaufenden Bewusstsein im Augenblick.

Wenn wir frei von Vorurteilen, Diffamierungen und Verzerrungen sind, ist dies die Ursache für Glück und Ausgeglichenheit. Der große Zen-Meister Sosan sagt: „Der buddhistische Weg ist nicht schwierig. Vermeide nur (etwas) herauszupicken und (bewertend) zu wählen.“ Um derartig ideologiefrei zu leben bedarf es selbstverständlich der inneren Ruhe und des Gleichgewichts der Mitte.


Vers 13
Obgleich es immer wieder Momente gibt, in denen wir handeln, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, ist es die reale Wirklichkeit so lange wir handeln. Beim Handeln gibt es ein mitlaufendes Bewusstsein und viele Handlungen im täglichen Leben sollten auch in der Tat bewusst durchgeführt werden. Aber das Denken steht nicht im Vordergrund und ist oft sogar störend. Dies gilt besonders wenn wir intensiv oder krampfhaft an das Ergebnis eines Handelns denken, dass wir anstreben oder dass wir uns vor dem Versagen fürchten.

Handeln und Mensch können nicht sinnvoll getrennt werden. Genau genommen gibt es überhaupt keine Menschen ohne Handeln, denn selbst wenn wir schlafen, ereignet sich physisch und psychisch Augenblick für Augenblick etwas, das wir auch als Handeln bezeichnen können.


Alle Dinge und Phänomene werden aufrechterhalten und entwickelt in der Einheit von Handeln und Mensch. Aber der Mensch darf sich nicht auf sein abgegrenztes Ich verkürzen, sondern ist nur im Gleichgewicht, wenn er als offenes Selbst handelnd sich selbst und das Universum verwirklicht. Das ist die Bedeutung des Mittleren Weges.

Sonntag, 9. Juni 2013

Untersuchung der externen Welt (Samskrta pariksha) Nagarjuna, MMK, Kapitel 7, Teil 2


Vers 16
Viele Dinge und Phänomene unseres Alltags sind stabil und als solche haben wir sie in unserem subjektiven Bewusstsein. Daher haben wir Vertrauen, dass diese realen stabilen Dinge eine wirkliche Existenz haben.

Nagarjuna unterscheidet hier also zwischen subjektiven  Vorstellungen, die sich ganz konkret auf reale und stabile Dinge beziehen, und illusionäre und täuschende Ideen, die eher Fantasiegebilden gleichen.

Diesen Vers kann man auch so verstehen, dass wir uns nicht von übertriebener Panik und Horrorvisionen anstecken lassen, die sich weit von der Wirklichkeit entfernt haben.

Vers 17
Das Gesetz von Ursache und Wirkung ist rational und beschreibt, wie die Wirklichkeit funktioniert. Wir Menschen glauben aber häufig an Wunder und unmögliche Zusammenhänge, die es in der Wirklichkeit überhaupt nicht geben kann.

Was unmöglich ist, sollte daher auch nicht (als real) gedacht werden. Denn denken kann man alles, auch wenn es mit der Wirklichkeit überhaupt nicht übereinstimmt.

In einem solchen Zusammenhang kann das Wort Existenz eine sehr verschwommene Bedeutung erlangen, weil sich der Inhalt nicht mehr auf die Wirklichkeit und die wahre Existenz bezieht.

Besonders gefährlich ist es, wenn wir wichtige Entscheidungen unseres Lebens auf völlig unsicheren Grundlagen von Glauben, Illusionen, Hoffnungen und Ängsten aufbauen.

Vers 18
Die Phänomene genau vor unseren Augen sind die Wirklichkeit, nichts mehr und nichts weniger. Selbst wenn die sinnliche Wahrnehmung dieser Phänomene gewisse Unsicherheiten hat, ist die direkte Beobachtung der Dinge und Phänomene der Wirklichkeit meist ziemlich nahe.
Manche meinen allerdings, dass es überhaupt keine Wirklichkeit gibt, aber wenn wir die Wirklichkeit immer genauer kennenlernen, verlassen wir irrigen Vorstellungen, an denen wir früher gehangen haben.

Eine sachliche unverstellte Beobachtung ist ein Fortschritt in der Menschheit. Dadurch konnten z.B. gravierende Irrtümer der christlichen Religion im Mittelalter, die den Menschen großes Leid zugefügt haben wie die Inquisition, überwunden werden.

Vers 19
Wenn wir daran glauben, dass diese Welt nicht real ist, entstehen Ideen und Vorstellungen von einer sehr unstabilen Welt. Ein solcher Glaube ist durchaus häufig.

Viele heilige Bücher der Religionen enthalten Wunder, die das Gesetz von Ursache und Wirkung auszuhebeln scheinen. Dies entspricht nicht der buddhistischen Lehre.

Häufig wird auch geglaubt, dass es in früheren Zeiten derartige Abweichungen des Gesetzes von Ursache und Wirkung bei Wundern gegeben hat und dass sich derartige Ereignisse gegenwärtig allerdings nicht mehr manifestieren.

Dies entspricht ebenfalls nicht der buddhistischen Wahrheit.

Vers 20
In dem Maße, wie sich die realen Dinge und Phänomene vor uns manifestieren, ist auch das Abstrakte frei, unbehindert und (nicht verengt). Häufig geht nämlich sonst abstraktes Denken an der Wirklichkeit vorbei und erzeugt dadurch Blockaden und unnötige Grenzen.

Die Wirklichkeit manifestiert sich direkt vor uns, und zwar bevor sich Subjektives und Objektbezogenes getrennt hat.

Dieser Vers hat hohe Bedeutung um Fantasie und Wirklichkeit voneinander zu unterscheiden. Eine solche Unterscheidung ist nicht zuletzt für abstrakte Vorstellungen und Aussagen für deren Wirklichkeitsgehalt ganz entscheident.
Kapitel 7

Vers 21
Wenn wir im Gleichgewicht sind, werden fast alle abstrakten Vorstellungen und Lebensrichtlinien überflüssig und gegenstandslos. Normalerweise hängen wir an verengte Weltanschauungen, als ob sie für unser Leben notwendig sind und wir ohne sie im Chaos versinken. Meistens handelt es sich allerdings dabei um Ideologien, die häufig unbewusst sind.

Wenn wir nicht im Gleichgewicht sind, haben derartige Weltanschauungen und Ideologien große Macht über uns. Dann können wir die wahre Existenz überhaupt nicht wahrnehmen und sie kann sich nicht vor uns manifestieren.

Je weniger wir im Gleichgewicht sind, desto mehr benötigen wir also Weltanschauungen, Vorurteile und Ideologien und klammern uns daran wie ein kleines Kind an sein Laufgitter. Aber dadurch werden wir selbstverständlich unfrei und haben nur sehr begrenzte Steuerungsmöglichkeiten und Freiheitsgrade in unserem Leben.

Vers 22
In diesem Vers bedeutet Stabilität das Reale und Instabilität das Nicht-Reale. Stabilität bedeutet jedoch nicht, dass sich in der Welt nichts verändert. Im Gegenteil alles ist im Fluss und alles wandelt sich, wenn wir die lineare Zeit und das Gesetz von Ursache und Wirkung einbeziehen.

Aber in solchem Wandel gibt es auch Ruhe und Stabilität, also einen Zustand im dynamischen Gleichgewicht. Dies gibt unserem Leben Mitte und Ruhe.

Unrealistische Gedanken, Befürchtungen und Erwartungen verunsichern unser Leben und zerstören unsere Stabilität. Wir sind dann verunsichert und hektisch.

Wie erwähnt sind Vergangenheit und Zukunft keine Zustände der Wirklichkeit, sondern gedachte, meist abstrakte Vorstellungen.

Vers 23
Der ruhige stabile Zustand existiert auf der Grundlage der Selbststeuerung. Aber ein (scheinbar) stabiler Zustand kann auch ohne Gleichgewicht sein und gleicht dann eher einem starren unbeweglichen Leben. Dann handelt es sich nur um eine scheinbare künstliche Stabilität, die den Menschen einengt und nur eine Scheinsicherheit im Auf und Ab des Lebens gibt. Eine solche Scheinsicherheit kann schon durch kleine Anlässe zerstört werden und führt dann ins Unglück.

Leider muss gesagt werden, dass auch falsche Meditations-Techniken zu einer Scheinsicherheit und Scheinstabilität führen. Dies gilt insbesondere wenn sie den Ich – Stolz und ein aufgeblasenes Ego unterstützen.

Den stabilen Zustand im Gleichgewicht kann man sich so vorstellen, dass eine Perle auf der Schneide einer Rasierklinge im Gleichgewicht balanciert. Wenn es ein falsches Gleichgewicht ist, so fällt sie bei geringstem Anlass wie zufällig auf die eine oder andere Seite. Das Leben ist dann dem Zufall unterworfen und außer Kontrolle geraten und ohne Selbststeuerung.

Vers 24
Auch Altern und Tod sind stabil im wahren Gleichgewicht. Dies gilt für Menschen und auch für die Welt und das Universum als Ganzes.

Wenn es kein Altern und Sterben gäbe, wäre die Harmonie der Welt überhaupt nicht möglich, daher gehört beides zum dynamischen Gleichgewicht des Lebens.

Die konkrete Stabilität der wirklichen Welt ist so wie sie ist und sie ist unabhängig davon, ob wir selbst auf einem stabilen oder nichtstabilen Zustand aufbauen. Die dynamische Selbststeuerung der Welt basiert also auf einem stabilen Gleichgewicht.

Subjektive Vorurteile können dagegen keine Stabilität geben. Auch der Glaube an eine unveränderliche getrennte Seele (Atman), die von Gautama Buddha fundamental abgelehnt wurde, gibt keine Sicherheit und Stabilität. Das gleiche gilt für unrealistische höchste Geister und spiritualistische Scheinwirklichkeiten.

Vers 26
Selbststeuerung und Disziplin sind wesentliche Bereiche der buddhistischen Praxis. Und ohne sie kann keine Erleuchtung und kein Erwachen verwirklicht werden. In der letzten Zeit träumen vielleicht manche davon, ohne Anstrengung und Disziplin Erleuchtung zu erlangen, aber das ist unmöglich.

Was schon gesteuert, ist kann nach Nagarjuna nicht noch einmal gesteuert werden. Denn es ist der natürliche Zustand, der nicht mehr gesteigert werden kann.

Wenn wir uns wirklich klar darüber sind, dass wir keine Selbststeuerung und damit keine Erleuchtung haben, so kann dies der Anfang intensiver Praxis sein. Dadurch wird bereits der Zustand der fehlenden Selbststeuerung überwunden.

Was noch nicht entstanden ist, also keine Wirklichkeit besitzt, kann auch nicht der Selbststeuerung unterliegen. Dies gilt vor allem für Ideen und Fantasien über die Zukunft, die keine Wirklichkeit sein kann.

Vers 27
Je starrer unser Leben in feste Raster gepresst wird, desto schwieriger ist es, dass sich die wahre Selbststeuerung ereignen kann. Ein derartiges starres Raster ist das Gegenteil der erwähnten Disziplin bei der buddhistischen Praxis.

Wenn der Zustand unserer wahren Existenz nicht in ein festes Schemer oder in Ideologien gepresst wird, kann sich der freie Zustand der Selbststeuerung besser entfalten als bei irgendwelchen anderen Bedingungen.

Die Zazen-Praxis kann zu Anfang durchaus anstrengend sein und Disziplin erfordern. Aber unser Geist befreit sich dabei und schüttelt Ideologien und Starrheit ab.

Vers 28
Der Zustand des Gleichgewichtes ist eine einfache Tatsache im gegenwärtigen Augenblick. Er wird nicht durch äußere Umstände oder Tatsachen bestimmt, die von außen auf uns einwirken.

Der Zustand des Gleichgewichts kann uns auch nicht von einem anderen Menschen (auch keinem Lehrer) geschenkt werden und kann noch viel weniger durch Drogen oder bestimmte spiritistische Techniken herbeigeführt werden.

Abstrakte Vorstellungen und Konzepte können niemals den Zustand der Selbststeuerung und des Gleichgewichts erzeugen.

Vers 29
Der höchste Zustand der Selbststeuerung kann sich nicht manifestieren, wenn der höchste Zustand des Gleichgewichts nicht da ist. Beide Zustände sind also identisch.

In gleicher Weise sagt Dôgen, dass die Zazen-Praxis und die Erleuchtung immer zusammenfallen und nicht getrennt werden können. Zazen ist daher identisch mit Selbststeuerung.

Vers 30
Je mehr wir uns von der Wirklichkeit entfernen, desto weniger manifestiert sich die Selbststeuerung. Wenn wir also aus der wirklichen Welt entfliehen, wird es schwierig oder unmöglich die Selbststeuerung und die Erleuchtung zu erlangen.

Die Dinge und Phänomene existieren überall in der Welt und im Universum. Sie sind nicht auf einen bestimmten Ort beschränkt. Die vielfältige Wirklichkeit existiert also ganz real. Es ist daher unsinnig zu behaupten, dass Nagarjuna die Nichtexistenz oder den Nihilismus lehrt. Das Gegenteil ist richtig.

Vers 31
Abstrakte Ideen in unserem Gehirn können niemals wahrhaftig existieren. Solche abstrakten Vorstellungen, Ideen und Fantasien können sich daher im Zustand der Selbststeuerung nicht manifestieren und verwirklichen.

Wenn aber die mentalen Überlegungen und Denkprozesse wie die Wahrnehmung der Sinnesorgane richtig arbeiten und funktionieren, erkennen wir die vielfältigen Dinge und Phänomene dieser Welt recht genau.

Oft mag es für uns schwierig sein, die konkreten Dinge und Phänomene direkt vor uns als Wirklichkeit anzuerkennen. Wir verlieren uns leicht in unseren abstrakten Ideen und Fantasien und vergessen, dass sie nicht real sind.

Vers 32
Selbststeuerung kann niemals auf der Grundlage einer rein subjektiven abgegrenzten Seele, wenn wir also nur auf uns selbst konzentriert und bezogen sind. Im alten Indien wurde ein solches abgegrenztes Ich als Atman bezeichnet.
Dasselbe gilt für eine Überhöhung des eigenen Ichs.

Die wahren Phänomene in ihrer reinen Bedeutung beruhen ebenfalls nicht auf einem subjektivistischen abgegrenzten Ich oder einem überhöhten Ego.

Der Zustand der Selbststeuerung ist etwas Wirkliches, dass im gegenwärtigen Augenblick tatsächlich und einfach existiert. Die Selbststeuerung ist nicht die Funktion eines subjektiven Atman. Sie ist auch nicht identisch mit einem isolierten Geist, der unabhängig von unserem Körper sein soll.

Vers 33
Die wirkliche Existenz und das wahre Sein der externen Welt gibt es nur im Augenblick. Wenn wir die (gedachte) lineare Zeit voraussetzen, können wir die reale Außenwelt im Entstehen, in der Fortdauer und in dem Vergehen überhaupt nicht wirklich erkennen.

Die externe Welt gibt es nicht in der Unwirklichkeit. Die externe Welt ist dann nicht nur eine Einbildung und Fiktion.

Nach Nagarjuna gibt es auch keine andere wirkliche Welt als die diese eine Externe, die wir unmittelbar wahrnehmen und erfahren. Das heißt Nagarjuna lehnt es schlicht weg ab, dass wir in einer anderen Welt leben können als in der unmittelbar extern Gegebenen. Spiritualistische Traumwelten und Illusionen haben für ihn keine reale Bedeutung und sind lediglich Fantasiegebilde in unserem unrealistischen Geist.

Vers 34
Nagarjuna vergleicht die Illusionen und Vorstellungen der linearen Welt mit der mythischen Stadt Gandharva, die es im Himmel geben soll die aber nicht real ist.

Die lineare Zeit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entsprechend dem Entstehen, Fortdauern und Vergehen ist eine solche abstrakte Vorstellung, an die wir uns jedoch total gewöhnt haben, nicht zuletzt wegen der modernen Uhren, die es im damaligen Indien selbstverständlich noch nicht gab:
Das wirkliche Sein und die wirkliche Existenz erleben und erfahren wir nur im gegenwärtigen Augenblick.


Dienstag, 4. Juni 2013

Untersuchung der externen Welt (Samskrta pariksha) Nagarjuna, MMK, Kapitel 7, Teil 1


Die materielle Welt wird von uns durch die Sinnesorgane wahrgenommen. Im Zuge der Naturwissenschaft und Technik sind unsere Methoden und Hilfsinstrumente für diese Wahrnehmung ganz erheblich verbessert worden, sodass wir in der Lage sind weit in das Weltall hineinzuschauen und auch sehr konkret zu messen und zu beobachten, was im atomaren und sogar im subatomaren Bereich vorhanden ist. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es sich letztlich dabei immer um Repräsentationen dieser materiellen Welt in unserem Gehirn handelt. Es finden also zwischen der materieller Wirklichkeit und unserem Bewusstsein diverse Umwandlungsprozesse der Daten stattf, die naturgemäß mit erheblichen Unsicherheiten belastet sind.

Der Buddhismus geht von der Existenz einer realen Welt aus, die immer eine Verschmelzung von Geist und Materie ist. Extreme Positionen wie der Idealismus und der Materialismus können die Wirklichkeit in ihrem vollen Umfang nicht erfassen. Sie sind gleichwohl wichtige Teilsichten der Wirklichkeit.

Vers 1
Wenn wir davon ausgehen, dass die externe Welt in der Vergangenheit erschienen ist, bedeutet dies, dass wir an die Eigenschaften des Erscheinens, der Fortdauer und des Verschwindens gebunden sind.

Dabei entsteht die Frage, wie sich die Welt uns jetzt darstellt, im Verhältnis zu dem, was früher erschienen ist.

Wir wissen heute aus der Naturwissenschaft, dass unsere Welt vor vielen Milliarden Jahren entstanden ist, wenn wir den Urknall als Beginn akzeptieren. Zweifellos leben wir in einer Zeit, in der die materialistische Weltanschauung eine hohe Bedeutung hat und sicher vorherrschend ist. Dabei stellen wir uns die Zeit als lineare Verbindung von der Vergangenheit zur Gegenwart und weiter in der Zukunft vor. Dies ist ein Modell der Zeit, das nicht in der Lage ist, spirituelle und existentielle Wirklichkeiten, um die es im Buddhismus immer geht, real und wirklichkeitsgetreu zu erfassen.

Im Buddhismus sind das Erleben und die Erfahrung im gegenwärtigen Augenblick von zentraler Bedeutung: Im Augenblick gibt es aber kein Entstehen und kein Vergehen, weil alles im Augenblick zusammengefasst ist. Eine lineare Zeit ist mit dem Augenblick also nicht vereinbar.
Wir stellen uns dabei durchaus vor, dass die Wirklichkeit in früheren Zeiten anders ausgesehen hat.

Vers 2
Die Charakteristika Erscheinen, Fortdauer und Vergehen sind niemals sehr klar.
Die externe Welt mit ihren vielfältigen Dingen und Phänomenen mag an einem Ort sein.
Nach der sogenannten Unschärferelation von Heisenberg sind in der Naturwissenschaft die Grenzen der genauen Beobachtung im subatomaren Bereich aufgezeigt. Selbst bei bester Messung ist es grundsätzlich nicht möglich, den genauen Ort zusammen mit verschiedenen anderen Parametern präzis zu messen. Dabei ist auch die Zeit als naturwissenschaftlicher Parameter wichtig.

Das Universum nehmen wir manchmal als Einheit und manchmal als die Vielheit der Dinge und Phänomene wahr.

Im mittleren Größenbereich unserer direkten Wahrnehmung scheinen die Dinge an einem bestimmten Ort zu sein, aber sie bewegen sich, wenn wir die lineare Zeit voraussetzen.

Vers 3
Das Typische und Charakteristische der externen Welt ist verschieden von dem Erscheinen, Fortdauern und Vergehen.

Damit ist wieder der gegenwärtige Augenblick angesprochen, in dem die Wirklichkeit existiert, und der von der linearen Zeit verschieden ist. Damit gibt es auch nur ein Universum, das gleichzeitig mit uns existiert.

Die Verbindung verschiedener Zustände bei den Dingen in der Außenwelt wird durch unser Denken hergestellt, ist also in der Wirklichkeit so nicht vorhanden. Wir sagen z.B. dass die Asche nach dem Verbrennen aus dem Feuerholz entstanden ist. Dies ist jedoch ein gedanklicher intellektueller Verbindungsprozess. Bei der genauen Beobachtung im Augenblick gibt es nur entweder das Feuerholz oder in einem anderen Augenblick die Asche. Eine gedankliche Schlussfolgerung und Bewertung mag zwar für manche organisatorischen Aufgaben in unserem Leben sinnvoll sein, aber sie beschreibt die Wirklichkeit nur sehr teilweise.

Vers 4
In diesem Vers stellt Nagarjuna fest, dass die verschiedenen Dinge und Phänomene dieser Welt unabhängig von einem sogenannten Ursprungs- oder Fundamentalphänomen sind. Das heißt, dass sie sich nicht auf einen solchen gedachten Ursprung eines einzigen Phänomens zurückführen lassen.

Wenn es ein solches Urphänomen gebe, könnte dieses ebenfalls nicht ewig, unabhängig und unveränderlich sein, sondern würde ebenfalls jeweils neu im Augenblick erzeugt.

Damit tritt Nagarjuna einer einfachen Vorstellung entgegen, dass z.B. Gott oder eine Urkraft außerhalb der Wirklichkeit existiert, unabhängig ist und sich nicht verändert. Derartige Glaubensinhalte gibt es in vielen Religionen.

Vers 5
Dôgen vertieft seine Untersuchungen über das Verhältnis der vielfältigen Dinge und Phänomene zu einem möglichen Urphänomen und stellt die Frage, ob nicht die Vielen Phänomene das Urphänomen miterzeugen. Logisch könnten wir dies so verstehen, dass das Urphänomen in den Einzelheiten enthalten ist und umgekehrt.

Vers 6
Wenn das Urphänomen außerhalb der Vielfalt dieser Wirklichkeit sein würde, gehörte es nicht zur Wirklichkeit. Dann könnte es auch nicht die Wirklichkeit erzeugen, weil es außerhalb stünde.

Wenn wir eine Dualität von Gott und Wirklichkeit der Welt annehmen, wäre er in der Tat außerhalb der Wirklichkeit. Ein solcher Glaube wird von Nagarjuna abgelehnt.

Vers 7
In diesem Vers wird auf das Problem eingegangen, dass ein angenommenes Urphänomen die Welt so erschaffen müsste, wie sie ist, das heißt mit allen den negativen Phänomen und unmoralischen Handlungen.

Ein solcher Denkansatz ist in zweifacher Weise problematisch: Wenn wir Gott als Urphänomen verstehen, wäre er nicht allmächtig, weil er auch das Negative und die Verbrechen in der Welt erschaffen hat. Wenn es aber etwas vollständiges Gutes als Urphänomen z.B. als Gott gäbe, kann es auch nicht zutreffen, dass er das Schlechte und Böse erschafft, weil er dann nicht vollständig gut wäre.

Dies ist zweifellos auch ein ungelöstes Problem der Theorie des Christentums und anderer Glaubensreligionen, das sich mit dem denkenden Intellekt nicht auflösen lässt.

Denn zweifellos gibt es in dieser Welt Gutes und Schlechtes, gibt es selbstloses Handeln und verbrecherisches selbstsüchtiges Handeln usw..

Vers 8
Das Leuchten manifestiert sich in der wirklichen Welt als Verschmelzung des Subjektiven und des Objekt-bezogenen.

In solchen Fällen manifestieren sich die einzelnen Phänomene als real und sind ebenfalls eine Verschmelzung des Subjektiven mit dem Objekt-bezogenen.

Leuchten ist ein Gefühl in uns, wenn wir etwas Leuchtendes sehen. Also ist es eine Einheit von unserem subjektiven Gefühl und dem objektbezogenen Wahrnehmen. Das Materielle und Objektive kann gemessen werden und gehört zur materiellen Dimension der Wirklichkeit. Wir können z.B. die Helligkeit der Sonne oder einer Glühbirne messen und genau kennen.

Damit ist jedoch das Wesentliche des Leuchtens für uns Menschen nicht erfasst. Das materielle Leuchten wäre dann keine Wirklichkeit im Sinne des Buddhismus.

In gleicher Weise können wir die Wirklichkeit der Dinge und Phänomen verstehen, die ebenfalls eine Verschmelzung des Subjektiven und Objekt-bezogenen sind und sich weder durch das eine noch das andere realitätsnah denken und beschreiben lassen.

Vers 9
Das Leuchten und die Dunkelheit interpretiere ich buddhistisch als Verwirklichung, also Erleuchtung, und Täuschung. Beide erscheinen als gegensätzliche Zustände und sind miteinander im Konflikt. Aber haben sie eine direkte Beziehung zur Wirklichkeit? Sind es Entitäten die dauerhaft als Leuchten und Dunkelheit verstanden werden können?

Erleuchtung und Täuschung sind zunächst einmal nur Worte und Vorstellungen. Die reale Wirklichkeit ist davon unabhängig. Der Konflikt besteht also nicht zwischen einer möglichen Wirklichkeit der Erleuchtung und der Täuschung sondern nur zwischen den Begriffen und Vorstellungen.

Das bedeutet, dass sie auf die reale Wirklichkeit überhaupt nicht einwirken können. Die Dinge und Phänomene dieser Welt existieren unabhängig davon, ob sie sichtbar sind oder nicht. Ob es also Licht und Helligkeit gibt oder Dunkelheit.

Auch Dôgen äußert sich in ähnlicher Weise, wenn er sagt, dass wir uns des Zustandes der Erleuchtung nicht unbedingt bewusst sind.

Vers 10
Es ist unmöglich, dass die Dunkelheit, also die Täuschung im Sinne des Buddhismus, durch die Dinge und Phänomene aber auch nicht durch die Dunkelheit selbst zerstört werden kann. Es gibt z.B. keine Wunderdroge, welche die Täuschung problemlos beseitigt. Überlegungen und Ideen, die selbst der Täuschung unterliegen, könnten damit auch die Täuschung nicht überwinden und außer Kraft setzen.

Was aber richtig und wahr ist und daher mit der Wirklichkeit übereinstimmt, hat tatsächlich die Kraft, Falschheit und Täuschung zu überwinden. Dies kann auf kaum erkennbare Weise vor sich gehen. Daraus wird die hohe Bedeutung des Gleichgewichts in der Zazen-Praxis und im täglichen Handeln deutlich. Täuschungen und unmoralische Handlungen können auf diese Weise ausgeschaltet werden.

Vers 11
Wenn es für uns unmöglich ist, dass wir etwas sehen können. weil zu wenig Licht da ist, kann man dies als Folge der Dunkelheit verstehen. Wenn wir in analoger Weise klar erkennen, dass wir nicht erleuchtet sind, ist dies in gewissem Umfang Verwirklichung.

Wenn irgendetwas klar vor uns zu sehen ist, ist es gleichzeitig ein Teil des Universums. Und in diesem Sinne können wir Dunkelheit als etwas Reales ansehen. Klar erkannteTäuschung ist in diesem Sinne also eine gewisse Verwirklichung. Denn sie ist oft der Anfang intensiver Praxis, um aus der Täuschung herauszukommen.

Vers 12
Durch die klare Helligkeit der Erleuchtung können wir die Wirklichkeit der Welt klar erkennen. die immer eine Einheit von Subjektiven und Objekt-bezogenen ist. In gleicher Weise ist Dunkelheit eine derartige Einheit von Subjektiven und Objekt-bezogenen Denken, Sehen und Handeln.

Die Wirklichkeit ist daher nichts Verborgenes, sondern selbst bei Dunkelheit vorhanden und erkennbar.

Erkannte Dunkelheit und Unwissenheit gehört daher zur Wahrheit. Und die Wirklichkeit kann überhaupt nicht verborgen werden.

Dunkelheit und Unwissenheit verbergen für uns die reale Welt, die sich aber unabhängig davon genau so manifestiert wie sie ist.

Nagarjuna fragt uns daher. wie eine solche Wirklichkeit ein subjektives Ich erzeugen kann. Da die Wirklichkeit immer eine Einheit von Subjektiven und Objekt-bezogenen ist, kann es ein nur subjektives Ich überhaupt nicht geben. Eine solche Existenz ist also absurd.

Was sich aber vor uns manifestiert, arbeitet kraftvoll. Denn die Wirklichkeit zeigt sich auch klar, jenseits von unserem intellektuellen Verstehen.

Nichts kann in der Welt völlig unverändert ein zweites Mal entstehen und geboren werden.

Vers 14
Ob wir es merken oder nicht, wir neigen dazu zu glauben, dass die Welt etwas anderes ist, als was sich direkt vor uns manifestiert. Aber was sich nicht manifestiert, kann niemals ein reales Phänomen sein.

Diese Welt manifestiert sich als etwas, das nicht mit Worten vollständig erklärt werden kann. Wie im Kapitel über das Gehen ausgeführt, gibt es keine Wirklichkeit in der Vergangenheit, in der gedachten Gegenwart und in der Zukunft, sondern nur im konkreten Handeln.

Religiöse und idealistische Philosophien bestehen darauf, dass es eine Wirklichkeit gibt, die sich grundsätzlich vom Alltag unterscheidet. Das Gegenteil trifft bei materialistischen Philosophien zu, die wiederum Ideen, Spiritualität und oft auch Moral abstreiten oder für unwichtig ansehen.

Nach Nagarjuna sind beide Ansätze falsch. Es ist von größter Wichtigkeit. die reale Wirklichkeit anzuerkennen und klar zu unterscheiden, ob es sich um Ideen oder Glauben handelt.

Vers 15
Häufig besteht die Vorstellung, dass die Wirklichkeit sich uns erst zukünftig nähern wird, aber nicht das ist, was sich direkt vor uns offenbart und manifestiert. Das ist nach Nagarjuna unrichtig.

Es ist daher auch nicht möglich die Wirklichkeit der Geburt klar und konkret zu erfahren. Das Gleiche gilt für den zukünftigen Tod. Über Beides machen wir uns lediglich gedankliche Vorstellungen, diese sind aber nicht mit der Wirklichkeit identisch.