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Meister Nishijima praktiziert Buddhismus seit über 60 Jahren. Er war Schüler von Meister Kodo Sawaki, einem japanischen umherziehenden Priester, der berühmt dafür war unermüdlich zu betonen, dass die Praxis des Zazen ihren richtigen zentralen Platz im Buddhismus erhält und der selbst intensiv praktizierte. Meister Nishijima wurde von Meister Renpo Niwa als Priester ordiniert, der später als Abt den Zentraltempel des Soto-Buddhismus leitete. Nishijima Roshi hat viele Bücher über Buddhismus u.a. von Dogen sowohl in Japanisch als auch in Englisch geschrieben. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren hat er in Japanisch und Englisch viele Vorträge gehalten, Seminare und Sesshins geleitet sowie genaue Anweisungen zum Buddhismus und vor allem zum Zazen gegeben. Deutsche Fassung: Yudo J. Seggelke

Dienstag, 4. Juni 2013

Untersuchung der externen Welt (Samskrta pariksha) Nagarjuna, MMK, Kapitel 7, Teil 1


Die materielle Welt wird von uns durch die Sinnesorgane wahrgenommen. Im Zuge der Naturwissenschaft und Technik sind unsere Methoden und Hilfsinstrumente für diese Wahrnehmung ganz erheblich verbessert worden, sodass wir in der Lage sind weit in das Weltall hineinzuschauen und auch sehr konkret zu messen und zu beobachten, was im atomaren und sogar im subatomaren Bereich vorhanden ist. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es sich letztlich dabei immer um Repräsentationen dieser materiellen Welt in unserem Gehirn handelt. Es finden also zwischen der materieller Wirklichkeit und unserem Bewusstsein diverse Umwandlungsprozesse der Daten stattf, die naturgemäß mit erheblichen Unsicherheiten belastet sind.

Der Buddhismus geht von der Existenz einer realen Welt aus, die immer eine Verschmelzung von Geist und Materie ist. Extreme Positionen wie der Idealismus und der Materialismus können die Wirklichkeit in ihrem vollen Umfang nicht erfassen. Sie sind gleichwohl wichtige Teilsichten der Wirklichkeit.

Vers 1
Wenn wir davon ausgehen, dass die externe Welt in der Vergangenheit erschienen ist, bedeutet dies, dass wir an die Eigenschaften des Erscheinens, der Fortdauer und des Verschwindens gebunden sind.

Dabei entsteht die Frage, wie sich die Welt uns jetzt darstellt, im Verhältnis zu dem, was früher erschienen ist.

Wir wissen heute aus der Naturwissenschaft, dass unsere Welt vor vielen Milliarden Jahren entstanden ist, wenn wir den Urknall als Beginn akzeptieren. Zweifellos leben wir in einer Zeit, in der die materialistische Weltanschauung eine hohe Bedeutung hat und sicher vorherrschend ist. Dabei stellen wir uns die Zeit als lineare Verbindung von der Vergangenheit zur Gegenwart und weiter in der Zukunft vor. Dies ist ein Modell der Zeit, das nicht in der Lage ist, spirituelle und existentielle Wirklichkeiten, um die es im Buddhismus immer geht, real und wirklichkeitsgetreu zu erfassen.

Im Buddhismus sind das Erleben und die Erfahrung im gegenwärtigen Augenblick von zentraler Bedeutung: Im Augenblick gibt es aber kein Entstehen und kein Vergehen, weil alles im Augenblick zusammengefasst ist. Eine lineare Zeit ist mit dem Augenblick also nicht vereinbar.
Wir stellen uns dabei durchaus vor, dass die Wirklichkeit in früheren Zeiten anders ausgesehen hat.

Vers 2
Die Charakteristika Erscheinen, Fortdauer und Vergehen sind niemals sehr klar.
Die externe Welt mit ihren vielfältigen Dingen und Phänomenen mag an einem Ort sein.
Nach der sogenannten Unschärferelation von Heisenberg sind in der Naturwissenschaft die Grenzen der genauen Beobachtung im subatomaren Bereich aufgezeigt. Selbst bei bester Messung ist es grundsätzlich nicht möglich, den genauen Ort zusammen mit verschiedenen anderen Parametern präzis zu messen. Dabei ist auch die Zeit als naturwissenschaftlicher Parameter wichtig.

Das Universum nehmen wir manchmal als Einheit und manchmal als die Vielheit der Dinge und Phänomene wahr.

Im mittleren Größenbereich unserer direkten Wahrnehmung scheinen die Dinge an einem bestimmten Ort zu sein, aber sie bewegen sich, wenn wir die lineare Zeit voraussetzen.

Vers 3
Das Typische und Charakteristische der externen Welt ist verschieden von dem Erscheinen, Fortdauern und Vergehen.

Damit ist wieder der gegenwärtige Augenblick angesprochen, in dem die Wirklichkeit existiert, und der von der linearen Zeit verschieden ist. Damit gibt es auch nur ein Universum, das gleichzeitig mit uns existiert.

Die Verbindung verschiedener Zustände bei den Dingen in der Außenwelt wird durch unser Denken hergestellt, ist also in der Wirklichkeit so nicht vorhanden. Wir sagen z.B. dass die Asche nach dem Verbrennen aus dem Feuerholz entstanden ist. Dies ist jedoch ein gedanklicher intellektueller Verbindungsprozess. Bei der genauen Beobachtung im Augenblick gibt es nur entweder das Feuerholz oder in einem anderen Augenblick die Asche. Eine gedankliche Schlussfolgerung und Bewertung mag zwar für manche organisatorischen Aufgaben in unserem Leben sinnvoll sein, aber sie beschreibt die Wirklichkeit nur sehr teilweise.

Vers 4
In diesem Vers stellt Nagarjuna fest, dass die verschiedenen Dinge und Phänomene dieser Welt unabhängig von einem sogenannten Ursprungs- oder Fundamentalphänomen sind. Das heißt, dass sie sich nicht auf einen solchen gedachten Ursprung eines einzigen Phänomens zurückführen lassen.

Wenn es ein solches Urphänomen gebe, könnte dieses ebenfalls nicht ewig, unabhängig und unveränderlich sein, sondern würde ebenfalls jeweils neu im Augenblick erzeugt.

Damit tritt Nagarjuna einer einfachen Vorstellung entgegen, dass z.B. Gott oder eine Urkraft außerhalb der Wirklichkeit existiert, unabhängig ist und sich nicht verändert. Derartige Glaubensinhalte gibt es in vielen Religionen.

Vers 5
Dôgen vertieft seine Untersuchungen über das Verhältnis der vielfältigen Dinge und Phänomene zu einem möglichen Urphänomen und stellt die Frage, ob nicht die Vielen Phänomene das Urphänomen miterzeugen. Logisch könnten wir dies so verstehen, dass das Urphänomen in den Einzelheiten enthalten ist und umgekehrt.

Vers 6
Wenn das Urphänomen außerhalb der Vielfalt dieser Wirklichkeit sein würde, gehörte es nicht zur Wirklichkeit. Dann könnte es auch nicht die Wirklichkeit erzeugen, weil es außerhalb stünde.

Wenn wir eine Dualität von Gott und Wirklichkeit der Welt annehmen, wäre er in der Tat außerhalb der Wirklichkeit. Ein solcher Glaube wird von Nagarjuna abgelehnt.

Vers 7
In diesem Vers wird auf das Problem eingegangen, dass ein angenommenes Urphänomen die Welt so erschaffen müsste, wie sie ist, das heißt mit allen den negativen Phänomen und unmoralischen Handlungen.

Ein solcher Denkansatz ist in zweifacher Weise problematisch: Wenn wir Gott als Urphänomen verstehen, wäre er nicht allmächtig, weil er auch das Negative und die Verbrechen in der Welt erschaffen hat. Wenn es aber etwas vollständiges Gutes als Urphänomen z.B. als Gott gäbe, kann es auch nicht zutreffen, dass er das Schlechte und Böse erschafft, weil er dann nicht vollständig gut wäre.

Dies ist zweifellos auch ein ungelöstes Problem der Theorie des Christentums und anderer Glaubensreligionen, das sich mit dem denkenden Intellekt nicht auflösen lässt.

Denn zweifellos gibt es in dieser Welt Gutes und Schlechtes, gibt es selbstloses Handeln und verbrecherisches selbstsüchtiges Handeln usw..

Vers 8
Das Leuchten manifestiert sich in der wirklichen Welt als Verschmelzung des Subjektiven und des Objekt-bezogenen.

In solchen Fällen manifestieren sich die einzelnen Phänomene als real und sind ebenfalls eine Verschmelzung des Subjektiven mit dem Objekt-bezogenen.

Leuchten ist ein Gefühl in uns, wenn wir etwas Leuchtendes sehen. Also ist es eine Einheit von unserem subjektiven Gefühl und dem objektbezogenen Wahrnehmen. Das Materielle und Objektive kann gemessen werden und gehört zur materiellen Dimension der Wirklichkeit. Wir können z.B. die Helligkeit der Sonne oder einer Glühbirne messen und genau kennen.

Damit ist jedoch das Wesentliche des Leuchtens für uns Menschen nicht erfasst. Das materielle Leuchten wäre dann keine Wirklichkeit im Sinne des Buddhismus.

In gleicher Weise können wir die Wirklichkeit der Dinge und Phänomen verstehen, die ebenfalls eine Verschmelzung des Subjektiven und Objekt-bezogenen sind und sich weder durch das eine noch das andere realitätsnah denken und beschreiben lassen.

Vers 9
Das Leuchten und die Dunkelheit interpretiere ich buddhistisch als Verwirklichung, also Erleuchtung, und Täuschung. Beide erscheinen als gegensätzliche Zustände und sind miteinander im Konflikt. Aber haben sie eine direkte Beziehung zur Wirklichkeit? Sind es Entitäten die dauerhaft als Leuchten und Dunkelheit verstanden werden können?

Erleuchtung und Täuschung sind zunächst einmal nur Worte und Vorstellungen. Die reale Wirklichkeit ist davon unabhängig. Der Konflikt besteht also nicht zwischen einer möglichen Wirklichkeit der Erleuchtung und der Täuschung sondern nur zwischen den Begriffen und Vorstellungen.

Das bedeutet, dass sie auf die reale Wirklichkeit überhaupt nicht einwirken können. Die Dinge und Phänomene dieser Welt existieren unabhängig davon, ob sie sichtbar sind oder nicht. Ob es also Licht und Helligkeit gibt oder Dunkelheit.

Auch Dôgen äußert sich in ähnlicher Weise, wenn er sagt, dass wir uns des Zustandes der Erleuchtung nicht unbedingt bewusst sind.

Vers 10
Es ist unmöglich, dass die Dunkelheit, also die Täuschung im Sinne des Buddhismus, durch die Dinge und Phänomene aber auch nicht durch die Dunkelheit selbst zerstört werden kann. Es gibt z.B. keine Wunderdroge, welche die Täuschung problemlos beseitigt. Überlegungen und Ideen, die selbst der Täuschung unterliegen, könnten damit auch die Täuschung nicht überwinden und außer Kraft setzen.

Was aber richtig und wahr ist und daher mit der Wirklichkeit übereinstimmt, hat tatsächlich die Kraft, Falschheit und Täuschung zu überwinden. Dies kann auf kaum erkennbare Weise vor sich gehen. Daraus wird die hohe Bedeutung des Gleichgewichts in der Zazen-Praxis und im täglichen Handeln deutlich. Täuschungen und unmoralische Handlungen können auf diese Weise ausgeschaltet werden.

Vers 11
Wenn es für uns unmöglich ist, dass wir etwas sehen können. weil zu wenig Licht da ist, kann man dies als Folge der Dunkelheit verstehen. Wenn wir in analoger Weise klar erkennen, dass wir nicht erleuchtet sind, ist dies in gewissem Umfang Verwirklichung.

Wenn irgendetwas klar vor uns zu sehen ist, ist es gleichzeitig ein Teil des Universums. Und in diesem Sinne können wir Dunkelheit als etwas Reales ansehen. Klar erkannteTäuschung ist in diesem Sinne also eine gewisse Verwirklichung. Denn sie ist oft der Anfang intensiver Praxis, um aus der Täuschung herauszukommen.

Vers 12
Durch die klare Helligkeit der Erleuchtung können wir die Wirklichkeit der Welt klar erkennen. die immer eine Einheit von Subjektiven und Objekt-bezogenen ist. In gleicher Weise ist Dunkelheit eine derartige Einheit von Subjektiven und Objekt-bezogenen Denken, Sehen und Handeln.

Die Wirklichkeit ist daher nichts Verborgenes, sondern selbst bei Dunkelheit vorhanden und erkennbar.

Erkannte Dunkelheit und Unwissenheit gehört daher zur Wahrheit. Und die Wirklichkeit kann überhaupt nicht verborgen werden.

Dunkelheit und Unwissenheit verbergen für uns die reale Welt, die sich aber unabhängig davon genau so manifestiert wie sie ist.

Nagarjuna fragt uns daher. wie eine solche Wirklichkeit ein subjektives Ich erzeugen kann. Da die Wirklichkeit immer eine Einheit von Subjektiven und Objekt-bezogenen ist, kann es ein nur subjektives Ich überhaupt nicht geben. Eine solche Existenz ist also absurd.

Was sich aber vor uns manifestiert, arbeitet kraftvoll. Denn die Wirklichkeit zeigt sich auch klar, jenseits von unserem intellektuellen Verstehen.

Nichts kann in der Welt völlig unverändert ein zweites Mal entstehen und geboren werden.

Vers 14
Ob wir es merken oder nicht, wir neigen dazu zu glauben, dass die Welt etwas anderes ist, als was sich direkt vor uns manifestiert. Aber was sich nicht manifestiert, kann niemals ein reales Phänomen sein.

Diese Welt manifestiert sich als etwas, das nicht mit Worten vollständig erklärt werden kann. Wie im Kapitel über das Gehen ausgeführt, gibt es keine Wirklichkeit in der Vergangenheit, in der gedachten Gegenwart und in der Zukunft, sondern nur im konkreten Handeln.

Religiöse und idealistische Philosophien bestehen darauf, dass es eine Wirklichkeit gibt, die sich grundsätzlich vom Alltag unterscheidet. Das Gegenteil trifft bei materialistischen Philosophien zu, die wiederum Ideen, Spiritualität und oft auch Moral abstreiten oder für unwichtig ansehen.

Nach Nagarjuna sind beide Ansätze falsch. Es ist von größter Wichtigkeit. die reale Wirklichkeit anzuerkennen und klar zu unterscheiden, ob es sich um Ideen oder Glauben handelt.

Vers 15
Häufig besteht die Vorstellung, dass die Wirklichkeit sich uns erst zukünftig nähern wird, aber nicht das ist, was sich direkt vor uns offenbart und manifestiert. Das ist nach Nagarjuna unrichtig.

Es ist daher auch nicht möglich die Wirklichkeit der Geburt klar und konkret zu erfahren. Das Gleiche gilt für den zukünftigen Tod. Über Beides machen wir uns lediglich gedankliche Vorstellungen, diese sind aber nicht mit der Wirklichkeit identisch.



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