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Meister Nishijima praktiziert Buddhismus seit über 60 Jahren. Er war Schüler von Meister Kodo Sawaki, einem japanischen umherziehenden Priester, der berühmt dafür war unermüdlich zu betonen, dass die Praxis des Zazen ihren richtigen zentralen Platz im Buddhismus erhält und der selbst intensiv praktizierte. Meister Nishijima wurde von Meister Renpo Niwa als Priester ordiniert, der später als Abt den Zentraltempel des Soto-Buddhismus leitete. Nishijima Roshi hat viele Bücher über Buddhismus u.a. von Dogen sowohl in Japanisch als auch in Englisch geschrieben. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren hat er in Japanisch und Englisch viele Vorträge gehalten, Seminare und Sesshins geleitet sowie genaue Anweisungen zum Buddhismus und vor allem zum Zazen gegeben. Deutsche Fassung: Yudo J. Seggelke

Montag, 27. Mai 2013

Untersuchung der Erregung und des Erregten, sowie dessen Einheit. (Ragarakta Pariksha), Nagarjuna, MMK, Kapitel 6


In diesem Kapitel geht es um die Reize und Stimuli durch die Außenwelt des Menschen, die unsere Sinnesorgane anregen und zu bestimmten mehr oder minder starken Reaktionen führen. Diese lösen nicht im Menschen zuletzt starke Emotionen und Affekte aus.

Das Sanskrit-Wort raga hat einen breiten semantischen Umfang: die Basisbedeutung ist färben, insbesondere mit roter Farbe, und entflammen, weiter: Gefühle und Leidenschaft, Liebe und nicht zuletzt starke sexuelle Begierde. Es geht also um starke und sehr starke Gefühle und nicht zuletzt um Abhängigkeiten und Anhaften durch Reize, die wir von außen aufnehmen und die uns dann in mehr oder minder starkem Umfang steuern und von denen wir abhängig werden.
Damit sind wir bei einem zentralen Thema des Buddhismus angekommen: Gier, Hass und Verblendung sind die drei wesentlichen von Gautama Buddha gelehrten psychisch-geistigen Gifte, die das menschliche Leben wesentlich beeinträchtigen oder sogar zerstören.

Wer von Gier und Sucht abhängig ist, die von sinnlichen Reizen ausgehen, ist nicht mehr im Gleichgewicht und hat den Mittleren Weg verlassen. Im alten Indien wurde das Wort raga nicht zuletzt für sinnliche Liebe, starke sexuelle Anziehung und auch für sexuelle Abhängigkeit verwendet.

Nagarjuna untersucht in diesem Kapitel tiefgründig die sinnlichen Reize, die uns über die Sinnesorgane von der Außenwelt erreichen. Dabei geht es nicht um Banalitäten und Amüsement, sondern um Grundsatzfragen der sinnlichen Reize, die auch sehr feiner Natur sein können: z.B. wenn wir Musik hören, ein Bild oder eine Skulptur in uns aufnehmen, schöne Gerüche empfinden oder sehr schmackhaftes Essen zu uns nehmen.

Zweifellos haben wir den Eindruck, dass es sich bei diesen sinnlichen Reizen um etwas Wirkliches handelt. Aber wir wissen auch, dass es sich bei genauerer Überlegung nicht immer um die Wirklichkeit der Außenwelt handelt, denn die Emotionen entstehen in uns selbst.

Keinesfalls dürfen wir die sinnliche Wahrnehmung jedoch gering schätzen, denn sie hat in unserem Leben eine sehr hohe Bedeutung und ist ein starkes Zeichen gerade der Realität der Welt, z.B. um idealistische Illusionen und Täuschungen zu durchschauen. Wichtig für Nagarjuna ist dabei, dass wir selbst oft diese Reize geistig und psychisch interpretieren, einordnen und bewerten, auch wenn wir dies häufig unbewusst tun. Ich bin fest davon überzeugt, dass die sinnliche Wahrnehmung im Zustand des Gleichgewichts ein zentrales Anliegen der frühen Lehren des Buddhismus ist.

Materialistisch orientierte Menschen verstehen die Signale der Wahrnehmung als Erkennen der objektiven Tatsachen und der Wirklichkeit. Das ist nicht die ganze Wahrheit. Wenn aber materialistische und idealistische Lebensphilosophien im Gleichgewicht sind, haben wir die Chance die Wirklichkeit zu erfahren. Das ist der Mittlere Weg.

Nagarjuna untersucht hier die Frage der Reize sowohl als abstrakte Überlegung als auch konkret auf den Menschen bezogen, der gereizt wird. Beide Bereiche, nämlich die abstrakte Vorstellung und der konkrete Zustand der Sinnesreize, sind nach Nagarjuna eine unauflösbare Einheit.

Vers 1
Der konkrete Zustand der Sinnesreize existiert vor der abstrakten Vorstellung und der Idee der Sinnesreize.

Dieser konkrete Zustand der Sinnesreize ist ganz klar vorhanden und ist der gereizte Zustand. Die reinen Sinnesreize, die nicht bewertet sind und keine starken Emotionen oder Begierden auslösen, sind genau so, wie sie wirklich sind. Sie haben eine eigene, unmittelbare (und oft blitzschnelle) Wirklichkeit.

Vers 2
Wann und wie ist es überhaupt möglich, dass die Emotionen der direkten Sinnesreizungen (im Menschen) nicht der konkrete Zustand der Wirklichkeit sind?
Wirkliche Situationen ereignen sich in Zusammenhängen und Umständen, die (von Natur aus) alle im Gleichgewicht und stabil sind. Dies gilt (auch) für die konkreten und abstrakten Fälle der Sinnesreizungen.

Gerade und vor allem konkrete Sinnesempfindungen wie Schmerz oder ein lauter Ausruf haben die große Kraft, illusionäre Gedankengespinste mit einem Schlag zu vertreiben und den direkten Zugang zur Wirklichkeit zu ermöglichen. Dies wird in vielen Zen-Geschichten überzeugend beschrieben, sei es, dass der Schüler plötzlich einen starken Schmerz erleidet oder sei es, dass der Lehrer bewusst einen solchen Zustand herbeiführt, z.B. indem er den Schüler an der Nase packt, sie dreht und starke Schmerzen hervorruft. Dann kann plötzlich der Vorhang der theoretischen Fantasien zerreißen, sodass sich der Zugang zur Wirklichkeit ganz direkt eröffnet. Daraus wird deutlich, dass dann das Empfangen des Reizes und der Reizzustand im Menschen genau identisch sind.

Ein solcher direkter Sinnesreiz ist etwas völlig anderes, als dessen spätere verbale Beschreibung oder gedankliche Vorstellung. Der Zustand des Reizes, z.B. des Schmerzes, ereignet sich jäh im Augenblick und ganz unmittelbar.

Vers 3
Die hier formulierte Einheit von konkreten und abstrakten Sinnesreizungen ist aber selbst ein Konzept.

Es kann vorkommen, dass die klaren Empfindungen der reinen Sinnesreize einerseits und starke Emotionen, z.B. bei Suchtabhängigkeit, andererseits getrennt sind. Dann machen sich die Emotionen sozusagen selbständig und übersteigen die reine ursprüngliche Sinneswahrnehmung.

Dann ist die Aussage, dass konkrete Sinnesreizung und der emotionale Zustand des Menschen identisch sind, nicht mehr richtig. Die Sinnesreizung ist dann nur der erste Stimulus, der dann eine Emotionsverstärkung anstößt, die sich von der ursprünglichen Wahrnehmung ablöst oder sie zumindest übersteigt.

Vers 4
Nagarjuna untersucht (vertieft) die Einheit der konkreten Sinneswahrnehmung und der allgemeinen Gefühle des Menschen. Beide sind nicht dasselbe und bilden bei überschießenden Emotionen keine Einheit mehr. Im Übrigen sind Sinneswahrnehmungen, so wie sie sind, im Allgemeinen sehr differenziert und detailliert.

Dagegen sind starke Emotionen oft undifferenzierte große Kräfte, die den ganzen Menschen ergreifen und überfluten. Sie führen von der beobachtbaren feinen Wirklichkeit der einzelnen Dinge und Phänomene weg.

Vers 5
Wenn die konkrete Situation jedoch eine Einheit ist von sinnlicher Reizung und Gefühlen, entspricht dies dem Wirklichem. Dagegen können starke Gefühle auch Illusionen und Täuschungen erzeugen, die gegenüber der Wirklichkeit überschießend sind.

Nagarjuna betont, dass selbst im Falle der sich von der konkreten Wahrnehmung ablösenden Emotionalität die einfache Wirklichkeit der Sinnesreize immer vorhanden ist. Die durch Sinnesreizungen ausgelösten Illusionen schießen dann aber über die Wirklichkeit hinaus.

Vers 6
Bei einer Trennung der einfachen Sinnesreizung von den abstrakten Ideen über die Sinnesreizung kann keine Verschmelzung beider Bereiche erfolgen. Denn es gibt bei der sinnlichen Wahrnehmung vielfältige Ideen und Interpretationsmöglichkeiten der Dinge und Phänomene, die mit einer einfachen einheitlichen Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Derartige Zustände sind typisch für Menschen, die nicht im Gleichgewicht sind.

Vers 7
In der Wirklichkeit und im Zustand des Gleichgewichts gibt es eine Einheit der konkreten vielfältigen Dinge und Phänomene und dem Abstrakten der Empfindungen.

Wesentlich ist weiterhin die Tendenz der Menschen, in allem und jedem einen Zweck und eine Funktion zu suchen. Dies gilt nicht zuletzt für religiöse Lehren, die eine Absicht außerhalb dieser Welt unterstellen. Außerdem wird von den Menschen oft eine Vermutung und Projektion in die Zukunft vorgenommen und dies mit einer angeblichen Absicht oder einem bestimmten (oft gesellschaftlich festgelegten) Sinn in der Wirklichkeit verbunden. Damit wird das Hier und Jetzt verlassen.

Vers 8
Häufig gehen wir von einer Trennung der konkreten Sinnesreizung und des Abstrakten aus und wollen danach wieder zu einer Einheit von beidem gelangen.
Der starke Wunsch nach einer derartigen erfolgreichen Vereinigung kann sogar dazu führen, dass wir die vorherige Trennung voraussetzen und eventuell sogar in unserem Geist durch Denken unterstützen.

Eine ungeteilte Wirklichkeit wird auf diese Weise unversehens zu einem Wunschbild, das in die Zukunft verlagert wird und die Klarheit für das Hier und Jetzt verschleiert. Z.B. kann die Erleuchtung als eine solche angestrebte Einheit verstanden werden, die sich von der gegenwärtigen meditativen Praxis ablöst und, erreichbar oder nicht, in die Zukunft verlagert wird.

Dann bekommt die Einheit der konkreten Sinnesreizung und der abstrakten Gefühlswelt etwas Künstliches, das die Einheit wesentlich erschweren oder unmöglich machen kann. Erleuchtung ist nichts anderes als die Wirklichkeit im Hier und Jetzt und keine gefühlsmäßig überzogene Zukunftsvision. Denn das ist das Gegenteil wahrer buddhistischer Praxis.

Vers 9
Es gibt viele Möglichkeiten bei der Frage der Einheit oder Trennung von Sinnesreizungen, mit dem denkenden Geist in Verwirrungen zu geraten. Im Zustand des Gleichgewichtes sind wir aber in der Lage, die konkreten Einzelheiten durch die Sinnesreizungen wahrzunehmen und mögliche künstlich erzeugte Gefühle klar zu erkennen. Dann haben starke Emotionen, die uns zu fesseln drohen, einen Teil ihrer Kraft verloren, sodass sich die Chance zum Gleichgewicht auftut

Vers 10
Theoretische Überlegungen über Trennung oder Einheit der Sinneswahrnehmungen und Gefühle sind meist unfruchtbar und realitätsfremd. Es geht um die Gefühle und Sinnesreizungen selbst als Wirklichkeit und nicht um spekulative Denkkonstrukte.
Die Wirklichkeit des ganzen Dharma hat in den Gefühlen eine ganz reale Komponente. Wer Gefühle ausschaltet und nur den Intellekt einsetzt, wird kaum Zugang zur Wirklichkeit dieser Welt bekommen.

Gedachte Trennungen oder Vereinheitlichungen gehen an der Wirklichkeit vorbei. Sie sind Missverständnisse und Illusionen. Dies gilt besonders für die Erleuchtung, die immer die konkrete Situation ergreift, genau so wie sie ist. Dann gewinnen Gleichgewicht und Selbststeuerung die Oberhand.


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