In
diesem Kapitel geht es um die Reize und Stimuli durch die Außenwelt des
Menschen, die unsere Sinnesorgane anregen und zu bestimmten mehr oder minder
starken Reaktionen führen. Diese lösen nicht im Menschen zuletzt starke
Emotionen und Affekte aus.
Das
Sanskrit-Wort raga hat einen breiten
semantischen Umfang: die Basisbedeutung ist färben, insbesondere mit roter
Farbe, und entflammen, weiter: Gefühle und Leidenschaft, Liebe und nicht
zuletzt starke sexuelle Begierde. Es geht also um starke und sehr starke
Gefühle und nicht zuletzt um Abhängigkeiten und Anhaften durch Reize, die wir
von außen aufnehmen und die uns dann in mehr oder minder starkem Umfang steuern
und von denen wir abhängig werden.
Damit
sind wir bei einem zentralen Thema des Buddhismus angekommen: Gier, Hass und
Verblendung sind die drei wesentlichen von Gautama Buddha gelehrten psychisch-geistigen
Gifte, die das menschliche Leben wesentlich beeinträchtigen oder sogar
zerstören.
Wer
von Gier und Sucht abhängig ist, die von sinnlichen Reizen ausgehen, ist nicht
mehr im Gleichgewicht und hat den Mittleren Weg verlassen. Im alten Indien
wurde das Wort raga nicht zuletzt für
sinnliche Liebe, starke sexuelle Anziehung und auch für sexuelle Abhängigkeit
verwendet.
Nagarjuna
untersucht in diesem Kapitel tiefgründig die sinnlichen Reize, die uns über die
Sinnesorgane von der Außenwelt erreichen. Dabei geht es nicht um Banalitäten
und Amüsement, sondern um Grundsatzfragen der sinnlichen Reize, die auch sehr
feiner Natur sein können: z.B. wenn wir Musik hören, ein Bild oder eine
Skulptur in uns aufnehmen, schöne Gerüche empfinden oder sehr schmackhaftes
Essen zu uns nehmen.
Zweifellos
haben wir den Eindruck, dass es sich bei diesen sinnlichen Reizen um etwas
Wirkliches handelt. Aber wir wissen auch, dass es sich bei genauerer Überlegung
nicht immer um die Wirklichkeit der
Außenwelt handelt, denn die Emotionen entstehen in uns selbst.
Keinesfalls
dürfen wir die sinnliche Wahrnehmung jedoch gering schätzen, denn sie hat in
unserem Leben eine sehr hohe Bedeutung und ist ein starkes Zeichen gerade der
Realität der Welt, z.B. um idealistische Illusionen und Täuschungen zu
durchschauen. Wichtig für Nagarjuna ist dabei, dass wir selbst oft diese Reize geistig
und psychisch interpretieren, einordnen und bewerten,
auch wenn wir dies häufig unbewusst tun. Ich bin fest davon überzeugt, dass die
sinnliche Wahrnehmung im Zustand des Gleichgewichts ein zentrales Anliegen der
frühen Lehren des Buddhismus ist.
Materialistisch
orientierte Menschen verstehen die Signale der Wahrnehmung als Erkennen der objektiven
Tatsachen und der Wirklichkeit. Das ist nicht die ganze Wahrheit. Wenn aber
materialistische und idealistische Lebensphilosophien im Gleichgewicht sind,
haben wir die Chance die Wirklichkeit zu erfahren. Das ist der Mittlere Weg.
Nagarjuna
untersucht hier die Frage der Reize sowohl als abstrakte Überlegung als auch konkret
auf den Menschen bezogen, der gereizt wird. Beide Bereiche, nämlich die
abstrakte Vorstellung und der konkrete Zustand der Sinnesreize, sind nach
Nagarjuna eine unauflösbare Einheit.
Vers
1
Der
konkrete Zustand der Sinnesreize existiert vor der abstrakten Vorstellung und der Idee der
Sinnesreize.
Dieser
konkrete Zustand der Sinnesreize ist ganz klar vorhanden und ist der gereizte
Zustand. Die reinen Sinnesreize, die nicht bewertet sind und keine starken
Emotionen oder Begierden auslösen, sind genau so, wie sie wirklich sind. Sie haben
eine eigene, unmittelbare (und oft blitzschnelle) Wirklichkeit.
Vers
2
Wann
und wie ist es überhaupt möglich, dass die Emotionen der direkten Sinnesreizungen
(im Menschen) nicht der konkrete
Zustand der Wirklichkeit sind?
Wirkliche
Situationen ereignen sich in Zusammenhängen und Umständen, die (von Natur aus) alle
im Gleichgewicht und stabil sind. Dies gilt (auch) für die konkreten und
abstrakten Fälle der Sinnesreizungen.
Gerade
und vor allem konkrete Sinnesempfindungen wie Schmerz oder ein
lauter Ausruf haben die große Kraft, illusionäre
Gedankengespinste mit einem Schlag zu vertreiben und den direkten Zugang zur Wirklichkeit zu ermöglichen. Dies wird in
vielen Zen-Geschichten überzeugend beschrieben, sei es, dass der Schüler
plötzlich einen starken Schmerz erleidet oder sei es, dass der Lehrer bewusst
einen solchen Zustand herbeiführt, z.B. indem er den Schüler an der Nase packt,
sie dreht und starke Schmerzen hervorruft. Dann kann plötzlich der Vorhang der
theoretischen Fantasien zerreißen, sodass sich der Zugang zur Wirklichkeit
ganz direkt eröffnet. Daraus wird deutlich, dass dann das Empfangen des Reizes
und der Reizzustand im Menschen genau identisch sind.
Ein
solcher direkter Sinnesreiz ist etwas völlig anderes, als dessen spätere verbale
Beschreibung oder gedankliche Vorstellung. Der Zustand des Reizes, z.B. des
Schmerzes, ereignet sich jäh im Augenblick und ganz unmittelbar.
Vers
3
Die
hier formulierte Einheit von konkreten und abstrakten Sinnesreizungen ist aber
selbst ein Konzept.
Es
kann vorkommen, dass die klaren Empfindungen der reinen Sinnesreize einerseits und
starke Emotionen, z.B. bei Suchtabhängigkeit, andererseits getrennt sind. Dann machen sich die Emotionen sozusagen selbständig
und übersteigen die reine ursprüngliche Sinneswahrnehmung.
Dann
ist die Aussage, dass konkrete Sinnesreizung und der emotionale Zustand des
Menschen identisch sind, nicht mehr
richtig. Die Sinnesreizung ist dann nur der erste Stimulus, der dann eine
Emotionsverstärkung anstößt, die sich von der ursprünglichen Wahrnehmung ablöst
oder sie zumindest übersteigt.
Vers
4
Nagarjuna
untersucht (vertieft) die Einheit der konkreten Sinneswahrnehmung und der
allgemeinen Gefühle des Menschen. Beide sind nicht dasselbe und bilden bei
überschießenden Emotionen keine Einheit
mehr. Im Übrigen sind Sinneswahrnehmungen, so wie sie sind, im Allgemeinen sehr
differenziert und detailliert.
Dagegen
sind starke Emotionen oft undifferenzierte große Kräfte, die den ganzen
Menschen ergreifen und überfluten. Sie führen von der beobachtbaren feinen Wirklichkeit
der einzelnen Dinge und Phänomene weg.
Vers
5
Wenn
die konkrete Situation jedoch eine Einheit ist von sinnlicher Reizung und
Gefühlen, entspricht dies dem Wirklichem.
Dagegen können starke Gefühle auch Illusionen
und Täuschungen erzeugen, die gegenüber der Wirklichkeit überschießend
sind.
Nagarjuna
betont, dass selbst im Falle der sich von der konkreten Wahrnehmung ablösenden Emotionalität die einfache
Wirklichkeit der Sinnesreize immer vorhanden ist. Die durch Sinnesreizungen
ausgelösten Illusionen schießen dann aber über die Wirklichkeit hinaus.
Vers
6
Bei
einer Trennung der einfachen Sinnesreizung von den abstrakten Ideen über die
Sinnesreizung kann keine Verschmelzung
beider Bereiche erfolgen. Denn es gibt bei der sinnlichen Wahrnehmung
vielfältige Ideen und Interpretationsmöglichkeiten der Dinge und Phänomene, die
mit einer einfachen einheitlichen Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Derartige Zustände sind typisch für Menschen,
die nicht im Gleichgewicht sind.
Vers
7
In
der Wirklichkeit und im Zustand des Gleichgewichts gibt es eine Einheit der konkreten
vielfältigen Dinge und Phänomene und dem Abstrakten der Empfindungen.
Wesentlich
ist weiterhin die Tendenz der Menschen, in allem und jedem einen Zweck und eine Funktion zu suchen. Dies
gilt nicht zuletzt für religiöse Lehren, die eine Absicht außerhalb dieser Welt
unterstellen. Außerdem wird von den Menschen oft eine Vermutung und Projektion
in die Zukunft vorgenommen und dies
mit einer angeblichen Absicht oder einem bestimmten (oft gesellschaftlich
festgelegten) Sinn in der Wirklichkeit verbunden. Damit wird das Hier und Jetzt verlassen.
Vers
8
Häufig
gehen wir von einer Trennung der konkreten Sinnesreizung und des Abstrakten aus
und wollen danach wieder zu einer Einheit
von beidem gelangen.
Der
starke Wunsch nach einer derartigen erfolgreichen Vereinigung kann sogar dazu
führen, dass wir die vorherige Trennung voraussetzen und eventuell sogar in
unserem Geist durch Denken unterstützen.
Eine
ungeteilte Wirklichkeit wird auf diese Weise unversehens zu einem Wunschbild, das in die Zukunft verlagert
wird und die Klarheit für das Hier und Jetzt verschleiert. Z.B. kann die Erleuchtung als eine solche angestrebte Einheit verstanden werden,
die sich von der gegenwärtigen meditativen Praxis ablöst und, erreichbar oder nicht,
in die Zukunft verlagert wird.
Dann
bekommt die Einheit der konkreten Sinnesreizung und der abstrakten Gefühlswelt
etwas Künstliches, das die Einheit wesentlich erschweren oder unmöglich machen kann.
Erleuchtung ist nichts anderes als die Wirklichkeit
im Hier und Jetzt und keine gefühlsmäßig überzogene Zukunftsvision. Denn das
ist das Gegenteil wahrer buddhistischer Praxis.
Vers
9
Es
gibt viele Möglichkeiten bei der Frage der Einheit oder Trennung von
Sinnesreizungen, mit dem denkenden Geist in Verwirrungen
zu geraten. Im Zustand des Gleichgewichtes sind wir aber in der Lage, die
konkreten Einzelheiten durch die Sinnesreizungen wahrzunehmen und mögliche künstlich
erzeugte Gefühle klar zu erkennen. Dann haben starke Emotionen, die uns zu
fesseln drohen, einen Teil ihrer Kraft verloren, sodass sich die Chance zum
Gleichgewicht auftut
Vers
10
Theoretische
Überlegungen über Trennung oder Einheit der Sinneswahrnehmungen und Gefühle
sind meist unfruchtbar und realitätsfremd. Es geht um die Gefühle und
Sinnesreizungen selbst als Wirklichkeit
und nicht um spekulative Denkkonstrukte.
Die
Wirklichkeit des ganzen Dharma hat in den Gefühlen eine ganz reale Komponente.
Wer Gefühle ausschaltet und nur den
Intellekt einsetzt, wird kaum Zugang zur Wirklichkeit dieser Welt bekommen.
Gedachte Trennungen
oder Vereinheitlichungen gehen an der Wirklichkeit vorbei. Sie sind
Missverständnisse und Illusionen. Dies gilt besonders für die Erleuchtung, die immer
die konkrete Situation ergreift, genau
so wie sie ist. Dann gewinnen Gleichgewicht und Selbststeuerung die Oberhand.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen