Vers
16
Viele
Dinge und Phänomene unseres Alltags sind stabil
und als solche haben wir sie in unserem subjektiven Bewusstsein. Daher haben
wir Vertrauen, dass diese realen stabilen Dinge eine wirkliche Existenz haben.
Nagarjuna
unterscheidet hier also zwischen subjektiven
Vorstellungen, die sich ganz konkret auf reale und stabile Dinge beziehen, und illusionäre und täuschende Ideen, die
eher Fantasiegebilden gleichen.
Diesen
Vers kann man auch so verstehen, dass wir uns nicht von übertriebener Panik und
Horrorvisionen anstecken lassen, die sich weit von der Wirklichkeit entfernt
haben.
Vers
17
Das
Gesetz von Ursache und Wirkung ist rational und beschreibt, wie die Wirklichkeit
funktioniert. Wir Menschen glauben aber häufig an Wunder und unmögliche
Zusammenhänge, die es in der Wirklichkeit überhaupt nicht geben kann.
Was
unmöglich ist, sollte daher auch nicht (als real) gedacht werden. Denn denken
kann man alles, auch wenn es mit der Wirklichkeit überhaupt nicht
übereinstimmt.
In
einem solchen Zusammenhang kann das Wort Existenz
eine sehr verschwommene Bedeutung erlangen, weil sich der Inhalt nicht mehr auf
die Wirklichkeit und die wahre Existenz bezieht.
Besonders
gefährlich ist es, wenn wir wichtige Entscheidungen unseres Lebens auf völlig
unsicheren Grundlagen von Glauben,
Illusionen, Hoffnungen und Ängsten aufbauen.
Vers
18
Die
Phänomene genau vor unseren Augen sind die Wirklichkeit, nichts mehr und nichts
weniger. Selbst wenn die sinnliche Wahrnehmung dieser Phänomene gewisse
Unsicherheiten hat, ist die direkte Beobachtung der Dinge und Phänomene der
Wirklichkeit meist ziemlich nahe.
Manche
meinen allerdings, dass es überhaupt keine Wirklichkeit gibt, aber wenn wir die
Wirklichkeit immer genauer kennenlernen, verlassen wir irrigen Vorstellungen,
an denen wir früher gehangen haben.
Eine
sachliche unverstellte Beobachtung ist ein Fortschritt in der Menschheit.
Dadurch konnten z.B. gravierende Irrtümer der christlichen Religion im
Mittelalter, die den Menschen großes Leid zugefügt haben wie die Inquisition,
überwunden werden.
Vers
19
Wenn
wir daran glauben, dass diese Welt nicht
real ist, entstehen Ideen und Vorstellungen von einer sehr unstabilen Welt. Ein solcher Glaube ist
durchaus häufig.
Viele
heilige Bücher der Religionen enthalten Wunder, die das Gesetz von Ursache und
Wirkung auszuhebeln scheinen. Dies entspricht nicht der buddhistischen Lehre.
Häufig
wird auch geglaubt, dass es in früheren
Zeiten derartige Abweichungen des Gesetzes von Ursache und Wirkung bei
Wundern gegeben hat und dass sich derartige Ereignisse gegenwärtig allerdings nicht mehr manifestieren.
Dies
entspricht ebenfalls nicht der buddhistischen Wahrheit.
Vers
20
In
dem Maße, wie sich die realen Dinge und Phänomene vor uns manifestieren, ist
auch das Abstrakte frei, unbehindert und (nicht verengt). Häufig geht nämlich sonst
abstraktes Denken an der Wirklichkeit vorbei und erzeugt dadurch Blockaden und
unnötige Grenzen.
Die
Wirklichkeit manifestiert sich direkt vor uns, und zwar bevor sich Subjektives und Objektbezogenes getrennt hat.
Dieser
Vers hat hohe Bedeutung um Fantasie und
Wirklichkeit voneinander zu unterscheiden. Eine solche Unterscheidung ist
nicht zuletzt für abstrakte Vorstellungen und Aussagen für deren
Wirklichkeitsgehalt ganz entscheident.
Kapitel
7
Vers
21
Wenn
wir im Gleichgewicht sind, werden fast alle abstrakten Vorstellungen und
Lebensrichtlinien überflüssig und gegenstandslos. Normalerweise hängen wir an
verengte Weltanschauungen, als ob sie für unser Leben notwendig sind und wir
ohne sie im Chaos versinken. Meistens handelt es sich allerdings dabei um Ideologien, die häufig unbewusst sind.
Wenn
wir nicht im Gleichgewicht sind, haben derartige Weltanschauungen und Ideologien
große Macht über uns. Dann können wir die wahre Existenz überhaupt nicht
wahrnehmen und sie kann sich nicht vor uns manifestieren.
Je
weniger wir im Gleichgewicht sind, desto mehr benötigen wir also
Weltanschauungen, Vorurteile und Ideologien und klammern uns daran wie ein
kleines Kind an sein Laufgitter. Aber
dadurch werden wir selbstverständlich unfrei
und haben nur sehr begrenzte Steuerungsmöglichkeiten und Freiheitsgrade in
unserem Leben.
Vers
22
In
diesem Vers bedeutet Stabilität das
Reale und Instabilität das Nicht-Reale.
Stabilität bedeutet jedoch nicht, dass sich in der Welt nichts verändert. Im Gegenteil alles ist im Fluss und alles wandelt
sich, wenn wir die lineare Zeit und das Gesetz von Ursache und Wirkung
einbeziehen.
Aber
in solchem Wandel gibt es auch Ruhe und
Stabilität, also einen Zustand im dynamischen Gleichgewicht. Dies gibt
unserem Leben Mitte und Ruhe.
Unrealistische
Gedanken, Befürchtungen und Erwartungen verunsichern unser Leben und zerstören
unsere Stabilität. Wir sind dann verunsichert und hektisch.
Wie
erwähnt sind Vergangenheit und Zukunft keine Zustände der Wirklichkeit, sondern
gedachte, meist abstrakte Vorstellungen.
Vers
23
Der
ruhige stabile Zustand existiert auf der Grundlage der Selbststeuerung. Aber
ein (scheinbar) stabiler
Zustand kann auch ohne Gleichgewicht sein und gleicht dann eher einem starren unbeweglichen Leben. Dann handelt es
sich nur um eine scheinbare künstliche Stabilität, die den Menschen einengt und
nur eine Scheinsicherheit im Auf und
Ab des Lebens gibt. Eine solche Scheinsicherheit kann schon durch kleine
Anlässe zerstört werden und führt dann ins Unglück.
Leider
muss gesagt werden, dass auch falsche Meditations-Techniken zu einer
Scheinsicherheit und Scheinstabilität führen. Dies gilt insbesondere wenn sie
den Ich – Stolz und ein aufgeblasenes Ego
unterstützen.
Den
stabilen Zustand im Gleichgewicht kann man sich so vorstellen, dass eine Perle
auf der Schneide einer Rasierklinge im Gleichgewicht balanciert. Wenn es ein
falsches Gleichgewicht ist, so fällt sie bei
geringstem Anlass wie zufällig
auf die eine oder andere Seite. Das Leben ist dann dem Zufall unterworfen und
außer Kontrolle geraten und ohne Selbststeuerung.
Vers
24
Auch
Altern und Tod sind stabil im wahren Gleichgewicht. Dies gilt für Menschen und
auch für die Welt und das Universum als Ganzes.
Wenn
es kein Altern und Sterben gäbe, wäre die Harmonie der Welt überhaupt nicht
möglich, daher gehört beides zum dynamischen Gleichgewicht des Lebens.
Die
konkrete Stabilität der wirklichen Welt ist so wie sie ist und sie ist unabhängig davon, ob wir selbst auf einem
stabilen oder nichtstabilen Zustand aufbauen. Die dynamische Selbststeuerung
der Welt basiert also auf einem stabilen Gleichgewicht.
Subjektive
Vorurteile
können dagegen keine Stabilität geben. Auch der Glaube an eine unveränderliche getrennte
Seele (Atman), die von Gautama Buddha fundamental abgelehnt wurde, gibt keine Sicherheit und Stabilität. Das
gleiche gilt für unrealistische höchste Geister und spiritualistische
Scheinwirklichkeiten.
Vers
26
Selbststeuerung
und Disziplin sind wesentliche Bereiche der buddhistischen Praxis. Und ohne sie
kann keine Erleuchtung und kein Erwachen verwirklicht werden. In der letzten
Zeit träumen vielleicht manche davon, ohne Anstrengung und Disziplin
Erleuchtung zu erlangen, aber das ist unmöglich.
Was
schon gesteuert, ist kann nach Nagarjuna nicht noch einmal gesteuert werden.
Denn es ist der natürliche Zustand, der nicht mehr gesteigert werden kann.
Wenn
wir uns wirklich klar darüber sind, dass wir keine Selbststeuerung und damit
keine Erleuchtung haben, so kann dies der Anfang
intensiver Praxis sein. Dadurch wird bereits der Zustand der fehlenden Selbststeuerung
überwunden.
Was
noch nicht entstanden ist, also keine Wirklichkeit besitzt, kann auch nicht der
Selbststeuerung unterliegen. Dies gilt vor allem für Ideen und Fantasien über
die Zukunft, die keine Wirklichkeit
sein kann.
Vers
27
Je
starrer unser Leben in feste Raster gepresst wird, desto schwieriger ist es,
dass sich die wahre Selbststeuerung ereignen kann. Ein derartiges starres
Raster ist das Gegenteil der erwähnten Disziplin bei der buddhistischen Praxis.
Wenn
der Zustand unserer wahren Existenz nicht in ein festes Schemer oder in
Ideologien gepresst wird, kann sich der freie Zustand der Selbststeuerung
besser entfalten als bei irgendwelchen anderen Bedingungen.
Die
Zazen-Praxis kann zu Anfang durchaus anstrengend sein und Disziplin erfordern.
Aber unser Geist befreit sich dabei und schüttelt Ideologien und Starrheit ab.
Vers
28
Der
Zustand des Gleichgewichtes ist eine einfache Tatsache im gegenwärtigen Augenblick.
Er wird nicht durch äußere Umstände oder Tatsachen bestimmt, die von außen auf
uns einwirken.
Der
Zustand des Gleichgewichts kann uns auch nicht von einem anderen Menschen (auch
keinem Lehrer) geschenkt werden und
kann noch viel weniger durch Drogen oder bestimmte spiritistische Techniken
herbeigeführt werden.
Abstrakte
Vorstellungen und Konzepte können niemals den Zustand der Selbststeuerung und
des Gleichgewichts erzeugen.
Vers
29
Der
höchste Zustand der Selbststeuerung kann sich nicht manifestieren, wenn der
höchste Zustand des Gleichgewichts
nicht da ist. Beide Zustände sind also identisch.
In
gleicher Weise sagt Dôgen, dass die Zazen-Praxis und die Erleuchtung immer
zusammenfallen und nicht getrennt werden können. Zazen ist daher identisch mit
Selbststeuerung.
Vers
30
Je
mehr wir uns von der Wirklichkeit entfernen, desto weniger manifestiert sich
die Selbststeuerung. Wenn wir also aus der wirklichen Welt entfliehen, wird es
schwierig oder unmöglich die Selbststeuerung und die Erleuchtung zu erlangen.
Die
Dinge und Phänomene existieren überall in der Welt und im Universum. Sie sind
nicht auf einen bestimmten Ort beschränkt. Die vielfältige Wirklichkeit
existiert also ganz real. Es ist daher unsinnig zu behaupten, dass Nagarjuna
die Nichtexistenz oder den Nihilismus lehrt. Das Gegenteil ist richtig.
Vers
31
Abstrakte
Ideen in unserem Gehirn können niemals wahrhaftig existieren. Solche abstrakten
Vorstellungen, Ideen und Fantasien können sich daher im Zustand der
Selbststeuerung nicht manifestieren und verwirklichen.
Wenn
aber die mentalen Überlegungen und Denkprozesse wie die Wahrnehmung der
Sinnesorgane richtig arbeiten und funktionieren, erkennen wir die vielfältigen
Dinge und Phänomene dieser Welt recht genau.
Oft
mag es für uns schwierig sein, die konkreten Dinge und Phänomene direkt vor uns
als Wirklichkeit anzuerkennen. Wir verlieren uns leicht in unseren abstrakten
Ideen und Fantasien und vergessen, dass sie nicht real sind.
Vers
32
Selbststeuerung
kann niemals auf der Grundlage einer rein subjektiven abgegrenzten Seele, wenn wir also nur auf uns selbst konzentriert
und bezogen sind. Im alten Indien wurde ein solches abgegrenztes Ich als Atman
bezeichnet.
Dasselbe
gilt für eine Überhöhung des eigenen Ichs.
Die
wahren Phänomene in ihrer reinen Bedeutung beruhen ebenfalls nicht auf einem
subjektivistischen abgegrenzten Ich oder einem überhöhten Ego.
Der
Zustand der Selbststeuerung ist etwas Wirkliches, dass im gegenwärtigen
Augenblick tatsächlich und einfach existiert. Die Selbststeuerung ist nicht die
Funktion eines subjektiven Atman. Sie
ist auch nicht identisch mit einem isolierten Geist, der unabhängig von unserem
Körper sein soll.
Vers
33
Die
wirkliche Existenz und das wahre Sein der externen Welt gibt es nur im Augenblick. Wenn wir die (gedachte) lineare Zeit voraussetzen, können wir
die reale Außenwelt im Entstehen, in der Fortdauer und in dem Vergehen überhaupt
nicht wirklich erkennen.
Die
externe Welt gibt es nicht in der Unwirklichkeit. Die externe Welt ist dann
nicht nur eine Einbildung und Fiktion.
Nach
Nagarjuna gibt es auch keine andere wirkliche Welt als die diese eine Externe,
die wir unmittelbar wahrnehmen und erfahren. Das heißt Nagarjuna lehnt es
schlicht weg ab, dass wir in einer anderen Welt leben können als in der
unmittelbar extern Gegebenen. Spiritualistische Traumwelten und Illusionen
haben für ihn keine reale Bedeutung und sind lediglich Fantasiegebilde in
unserem unrealistischen Geist.
Vers
34
Nagarjuna
vergleicht die Illusionen und Vorstellungen der linearen Welt mit der
mythischen Stadt Gandharva, die es im
Himmel geben soll die aber nicht real
ist.
Die
lineare Zeit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entsprechend dem Entstehen,
Fortdauern und Vergehen ist eine solche abstrakte
Vorstellung, an die wir uns jedoch total gewöhnt haben, nicht zuletzt wegen
der modernen Uhren, die es im damaligen Indien selbstverständlich noch nicht
gab:
Das wirkliche
Sein und die wirkliche Existenz erleben und erfahren wir nur im gegenwärtigen
Augenblick.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen