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Meister Nishijima praktiziert Buddhismus seit über 60 Jahren. Er war Schüler von Meister Kodo Sawaki, einem japanischen umherziehenden Priester, der berühmt dafür war unermüdlich zu betonen, dass die Praxis des Zazen ihren richtigen zentralen Platz im Buddhismus erhält und der selbst intensiv praktizierte. Meister Nishijima wurde von Meister Renpo Niwa als Priester ordiniert, der später als Abt den Zentraltempel des Soto-Buddhismus leitete. Nishijima Roshi hat viele Bücher über Buddhismus u.a. von Dogen sowohl in Japanisch als auch in Englisch geschrieben. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren hat er in Japanisch und Englisch viele Vorträge gehalten, Seminare und Sesshins geleitet sowie genaue Anweisungen zum Buddhismus und vor allem zum Zazen gegeben. Deutsche Fassung: Yudo J. Seggelke

Mittwoch, 26. Juni 2013

Untersuchung der Einheit von Handeln und Verhalten des Menschen (Karmakaraka pariksha) Nagarjuna, MMK, Kapitel 8


Meister Nagarjuna untersucht im Hauptteil des MMK in den Kapiteln 8 bis 21 das Handeln und Handeln des Menschen in dieser realen Welt. Er warnt dabei vor Abstraktionen und Ideologien wie Ewige Existenz, unveränderte Dauerhaftigkeit und dem isolierten Ich (Atman). Das Handeln und der Begriff Karma haben im Buddhismus schon immer eine zentrale Bedeutung gehabt. Aber häufig wird Karma verengt verstanden, wie gutes oder schlechtes Karma, zukünftiges Leben des Menschen insbesondere nach der Wiedergeburt usw.. Schlechtes Karma hat danach eine schlechte Wiedergeburt und ein schwieriges Leben als Mensch oder sogar als Tier zur Folge. Gutes Karma bewirkt das Gegenteil und führt danach letztlich über mehrere Wiedergeburten zum Nirvana, sodass der leidhafte Kreislauf des Lebens beendet wird. Aber Nirvana bedeutet nach Nagarjuna Befreiung von Ideologien und materiellen Abhängigkeiten wie z. B. Gier und Habsucht, auch und gerade in diesem Leben. Und diese Befreiung ist unauflösbar mit Handeln verbunden, Denken allein reicht nicht

Nagarjuna beschäftigt sich sehr viel präziser mit dem Handeln als üblich und hält eine Verkürzung auf die Frage der Wiedergeburt für völlig unzureichend.

In der westlichen Philosophie haben wir die beiden Hauptströmungen des Idealismus also des Gedachten und der Gehirntätigkeit auf der einen Seite und des Materialismus also der äußeren Form und der materiellen Aspekte dieser Welt auf der anderen Seite. Beide sind zwar weit entwickelt aber einseitig und ungeeignet, um das wirkliche Leben philosophisch angemessen zu erfassen. Eine Philosophie des Handelns ist im Westen schwer vorstellbar, obgleich doch Aktivität und Handeln einen so hohen Stellenwert in der westlichen Kultur und Technik haben.

Durch die genaue Untersuchung der Theorie und Praxis des Handelns kann der Buddhismus daher für den Westen erhebliche realistische Verbesserungen der Lebensverständnisse erbringen. Außerdem ist Handeln wesentliche Grundlage des Erwachens und der Erleuchtung, die sich weder durch Idealismus noch durch Materialismus verwirklichen lassen.

Vers 1
Ich unterscheide hier, ob es sich beim Handeln um bewusste Absicht und Ergebnisorientierung handelt oder nicht. Das einfache Tun und Handeln, bei denen die Absicht entweder überhaupt keine Rolle spielt oder unwichtig ist, möchte ich daher als Handeln bezeichnen und davon absichtsvolles Verhalten und zweckhaftes Benehmen abgrenzen. Bei dem Begriff Verhalten schwingt auch die Bedeutung von „Wohlverhalten“ im Sinne von Konventionen und Ethik mit. Es geht also auch um gesellschaftlich übliches und zugelassenes Benehmen und Verhalten.

Menschen und Dinge werden von Nagarjuna nicht als statische und wesentliche Entitäten verstanden, sondern es geht um das Handeln als solches. Insofern ist der Mensch daher Träger der Handlungen und ist kein dauerhaftes abgegrenztes Ich als unveränderliches Subjekt. Damit wird ein radikaler Paradigmenwechsel vollzogen, bei dem nicht mehr der Mensch als Entität und Person im Mittelpunkt steht, sondern seine Handlungen.

Das äußere Verhalten des Menschen ist die externe Seite des Handelns. Es gibt also eine äußere Seite des Handelns, die wir formal auch beobachten können und eine andere Seite, die das Handeln als solches betrifft.

Wirkliche Handlungen sind niemals abstrakt, auch wenn wir sie in Worten formulieren und Vorstellungen dazu haben. Dieses können wir als abstrakte Vorstellung des Handelns bezeichnen, aber wir müssen beachten, dass in der Wirklichkeit die abstrakte und konkrete Seite des Handelns eine Einheit bildet.

Besonders im Westen haben wir meist ein Weltbild, dass die Dinge dieser Welt mehr oder minder dauerhaft und unabhängig bestehen, also vom Handeln unabhängig sind. Dies ist eine sehr eingeengte Sichtweise, die der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Im Buddhismus lehnen wir eine solche Welt der Dinge und Ideen ab und gründen die wahre Lebensphilosophie auf das Handeln und Entstehen im gegenwärtigen Augenblick. Das Handeln kann niemals von der Welt verschieden sein. Die buddhistische Lehre und Praxis ist daher aus meiner Sicht sehr viel umfassender und realitätsnäher als der westliche Idealismus und Materialismus.

Besonders deutlich wird das bei Rene Descartes, der behauptet: „Ich denke, also bin ich.“ Auch der Materialismus, der sich nur auf Wahrnehmung und materielle Zusammenhänge stützt, kann die Wirklichkeit nicht umfassend beschreiben.

Im Buddhismus kann man formulieren:
„Ich handele, deshalb existiert das Universum.“
Dabei darf das Ich nicht individualistisch verstanden werden. Besser wäre eine Formulierung:
„Handlung ereignet sich, daher existiert das Universum.“
Das klingt sicher für westliche Ohren befremdlich, trifft aber den Kern der umfassenden buddhistischen Lehre und Praxis.

Danach können wir wirkliches Handeln im Augenblick und das wirkliche Universum nicht trennen, denn beides ist eine Einheit und ganz genau die Wirklichkeit.

Dieser Vers beschreibt den Kern des Buddhismus: Die Wirklichkeit ist eine Einheit von wirklichem Handeln im gegenwärtigen Augenblick und der wirklichen Welt selbst. Die Wirklichkeit ist total verschieden von abstrakten Überlegungen und Konzepten, oder von der externen Sichtweise des äußeren Verhaltens.

Vers 2
Wenn die Handlung in der realen Welt überhaupt nicht vorhanden ist, gibt es auch keine Beziehung zum konkreten Handeln. Dies gibt es häufiger, wenn man z. B. an hypothetische Situationen denkt und die klare Abgrenzung zur Wirklichkeit vergisst.

Selbstverständlich sind alternative Denkprozesse und Planungen für die Zukunft sinnvoll. Sie sollten so konkret und realistisch wie möglich sein, aber sie sind noch nicht das Handeln selbst. Wenn nicht gehandelt wird, ist auch die Vorstellung eines handelnden Menschen hypothetisch und meistens bedeutungslos oder sogar gefährlich.

Vor allem ist es sinnlos, das Handeln von dem Menschen, der handelt, zu trennen: „Wir sind unsere Handlungen“. Wenn wir uns klar darüber sind, was die abstrakte Welt ist und was konkretes Handeln ist, besteht die Möglichkeit, dass beides eine Einheit bildet.

Aber es ist nicht möglich, dass wir das Handeln in seiner ganzen Fülle und Breite intellektuell verstehen. Dasselbe gilt für den Menschen, der handelt, denn in der Wirklichkeit ist das Handeln intellektuell nicht zu verstehen, aber beides existiert als Einheit.

Vers 4
Nagarjuna beschreibt hier das Handeln genauer und sagt, dass wir aufrichtig, ehrlich und offen beim Handeln sein sollen. Ist das nicht der Fall, erkennen wir weder, wie und wann die Handlung vollendet ist, noch können wir uns über die wahren Ursachen klar werden.

Das Gleiche gilt für die physikalische Seite des Handelns, die genauso zur Einheit gehört. Es kommt also nicht zuletzt auf die ganz genaue Beobachtung des Handelns bei sich und anderen an. Dies ist besonders bei der Ausübung von Kunst z.B. der Musik oder beim Sport offensichtlich und gilt für jede Form der Feinkoordinierung.

Vers 5
In dieser Welt gibt es Prozesse, die dem Gesetz des Universums folgen und solche, die diesem Gesetz nicht folgen. Wenn das wirkliche Handeln nicht existiert, kann dies nicht wahrgenommen werden.

Wenn die Welt und das Universum nicht wirklich sind, kann ein Ergebnis des Handelns, das konkret erzeugt wurde, nicht klar wahrgenommen werden. Es gibt ebenfalls keine klare Wahrnehmung für die nicht-reale Welt, die sich nicht an das Gesetz des Universums hält.

Wir neigen häufig dazu, die Gesetze des Universums zu negieren z.B. die naturwissenschaftlichen Gesetze.

Nagarjuna spricht in diesem Vers das Ergebnis des Handelns an, das wörtlich übersetzt Frucht heißt. Bei der Karma-Lehre und der Wiedergeburt im alten Indien kam der Theorie des Ergebnisses beim Handeln eine zentrale Bedeutung zu. Davon wird im Folgenden noch die Rede sein.

Vers 6
Das höchste Glück und die höchste Zufriedenheit in unserem Leben verwirklichen sich nur, wenn wir einen klaren Sinn für die Realität bei unseren Handlungen haben.

Dazu gehört nicht zuletzt Klarheit in Ethik und Moral beim Handeln. Die Idee allein, ohne Anhaftung zu sein, und auch die Vorstellung eines edlen Zieles reichen nicht aus für glückliches Handeln und Leben. Gerade überzogene unrealistische Ziele, die nicht mit dem Handeln überstimmen, sind oft die Ursache für Unglück bei uns selbst und anderen.

Vers 7
Die Wirklichkeit ist kein dauerhafter starrer Zustand, auf dessen Grundlage sich Handeln vollzieht. Das Umgekehrte ist richtig: Die Einheit vom Konkreten und Abstrakten des Handelns ist die Wirklichkeit, die auf dem Handeln im Augenblick beruht. Die Wirklichkeit hat keine dinghafte Natur, die dauerhaft ist.

Abstrakte Ideen allein können niemals Wirklichkeit sein, und die ideelle und materielle Seite des Handelns und der Wirklichkeit bilden immer eine Einheit.

Vers 8
Wenn wir die Welt in Abstraktes und Materiell/Konkretes unterteilen und davon ausgehen, dass dies zwei völlig verschiedene Dimensionen sind, kann es keine Beziehung zwischen dem Abstrakten und dem Materiellen geben. Das bedeutet, dass abstrakte Ideen und Vorstellungen nicht das Produkt der materiellen Seite sein können. Es gilt auch das Umgekehrte, dass die materielle Sicht und Seite dieser Welt von sich aus nichts Abstraktes, z.B. spirituelle Bereiche erzeugen kann.

In der wirklichen Welt geht es jedoch um das Handeln und nicht um den Glauben und die Vorstellungen über Ideelles und Materielles. Sogar moralische Fehler können nur durch das Handeln von Menschen entstehen. Wenn wir nur physisch materiell denken, gibt es allerdings keine Fehler und Sünden. Das ist nicht zu vertreten. Umgekehrt erzeugen keine abstrakten Fehler und Sünden einen konkreten Menschen, der sie begehen könnte. Handeln ist immer eine Einheit von Abstrakten und Konkreten.

Vers 9
Weder das Absolute allein noch das Materielle allein kann die reale Welt erzeugen. Diese ist immer eine Einheit von Abstraktem und materiell Konkretem.

Die Wirklichkeit kann daher niemals durch Abstraktes wie die mentale oder spirituelle Seite des Menschen erzeugt werden. Das Gleiche gilt für die materielle Seite des Lebens und der Welt, die niemals eine wahre Grundlage der Wirklichkeit sein kann. Die Wirklichkeit kann nicht auf eines der beiden nämlich das Abstrakte oder Materielle reduziert werden.

Handeln oder das Verhalten eines Menschen vollzieht sich unmittelbar im Augenblick und kann nur unvollständig mit Worten beschrieben werden. Dies ist insbesondere im Augenblick des Handelns selbst unmöglich. Gleiches gilt für das Denken, das im Allgemeinen vor oder nach dem Handeln stattfindet. Mentale Gedanken und Bilder sind viel langsamer als das Handeln im Augenblick.

Vers 10
Nagarjuna betont noch einmal, dass die Wirklichkeit von uns selbst und von der Welt nicht durch abstrakte Spiritualität erzeugt wird. Sie ist vielmehr die Einheit der Dinge und Phänomene, die direkt vor uns sind, und dem Abstrakten also dem Ideellen der Kreativität z.B. in der Kunst oder im Spirituellen.

Er stellt die Praxis des Handelns in den Mittelpunkt des zweiten Verses, das unmittelbar direkt und viel schneller als das Denken abläuft. Die Wirklichkeit des Handelns in der Gegenwart, und zwar genau im Augenblick, ist etwas fundamental Anderes als die Erinnerung an Vergangenes und die Erwartung des Zukünftigen.

Vers 11
Die Welt als Realität bewegt sich genauso, wie sie ist und zwar in der Einheit des Abstrakten und Materiell-Konkreten. Und Beides verwirklicht sich im Handeln selbst.

Diskussionen und Überlegungen, und seien sie noch so klug und tiefgründig, können nicht gleichzeitig mit dem Handeln im Augenblick vor sich gehen. Dazu ist der Augenblick viel zu kurz. Und selbst erweitertes intuitives Verstehen kann erst nach dem Handeln formuliert und kommuniziert werden.

Im menschlichen Gehirn bleiben gewissermaßen mentale und intellektuelle Rückstände des Handelns selbst gespeichert, die Grundlage und Inhalt der nachfolgenden Diskussion sind. Wirkliche Kommunikation ist allerdings mehr als nur der Austausch von erinnerten Informationen, sondern ist wechselseitige Anregung der kommunizierenden Menschen. Auch solche Kommunikation hat eine andere Qualität als die Wirklichkeit des Handelns im Augenblick, obgleich sie viel zur Klärung und Erweiterung des Selbst beitragen kann.

Vers 12
Verhalten bedeutet eine Verallgemeinerung der vielfältigen Handlungen, die wir generell oder aber auch in einer bestimmten Situation durchführen. Insofern sind Handeln und Verhalten miteinander unlösbar verbunden. Allerdings sind dies verschiedene Begriffe, mit unterschiedlicher Breite der Bedeutungen. Handeln ist das konkrete Augenblicks-bezogene, während Verhalten eher generalisiert und eventuell sogar bewertend ist.

Handeln ist immer eine Einheit im Augenblick. Es ist nicht gespalten in verschiedene Teile und schon gar nicht von dem mitlaufenden Bewusstsein im Augenblick.

Wenn wir frei von Vorurteilen, Diffamierungen und Verzerrungen sind, ist dies die Ursache für Glück und Ausgeglichenheit. Der große Zen-Meister Sosan sagt: „Der buddhistische Weg ist nicht schwierig. Vermeide nur (etwas) herauszupicken und (bewertend) zu wählen.“ Um derartig ideologiefrei zu leben bedarf es selbstverständlich der inneren Ruhe und des Gleichgewichts der Mitte.


Vers 13
Obgleich es immer wieder Momente gibt, in denen wir handeln, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, ist es die reale Wirklichkeit so lange wir handeln. Beim Handeln gibt es ein mitlaufendes Bewusstsein und viele Handlungen im täglichen Leben sollten auch in der Tat bewusst durchgeführt werden. Aber das Denken steht nicht im Vordergrund und ist oft sogar störend. Dies gilt besonders wenn wir intensiv oder krampfhaft an das Ergebnis eines Handelns denken, dass wir anstreben oder dass wir uns vor dem Versagen fürchten.

Handeln und Mensch können nicht sinnvoll getrennt werden. Genau genommen gibt es überhaupt keine Menschen ohne Handeln, denn selbst wenn wir schlafen, ereignet sich physisch und psychisch Augenblick für Augenblick etwas, das wir auch als Handeln bezeichnen können.


Alle Dinge und Phänomene werden aufrechterhalten und entwickelt in der Einheit von Handeln und Mensch. Aber der Mensch darf sich nicht auf sein abgegrenztes Ich verkürzen, sondern ist nur im Gleichgewicht, wenn er als offenes Selbst handelnd sich selbst und das Universum verwirklicht. Das ist die Bedeutung des Mittleren Weges.

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