Meister Nagarjuna untersucht
im Hauptteil des MMK in den Kapiteln 8 bis 21 das Handeln und Handeln des
Menschen in dieser realen Welt. Er warnt dabei vor Abstraktionen und Ideologien
wie Ewige Existenz, unveränderte Dauerhaftigkeit und dem isolierten Ich
(Atman). Das Handeln und der Begriff
Karma haben im Buddhismus schon immer eine zentrale Bedeutung gehabt. Aber
häufig wird Karma verengt verstanden, wie gutes oder schlechtes Karma,
zukünftiges Leben des Menschen insbesondere nach der Wiedergeburt usw..
Schlechtes Karma hat danach eine schlechte Wiedergeburt und ein schwieriges
Leben als Mensch oder sogar als Tier zur Folge. Gutes Karma bewirkt das
Gegenteil und führt danach letztlich über mehrere Wiedergeburten zum Nirvana,
sodass der leidhafte Kreislauf des Lebens beendet wird. Aber Nirvana bedeutet
nach Nagarjuna Befreiung von Ideologien
und materiellen Abhängigkeiten wie z. B. Gier und Habsucht, auch und gerade in diesem Leben. Und diese Befreiung ist
unauflösbar mit Handeln verbunden,
Denken allein reicht nicht
Nagarjuna beschäftigt sich
sehr viel präziser mit dem Handeln als üblich und hält eine Verkürzung auf die
Frage der Wiedergeburt für völlig unzureichend.
In der westlichen
Philosophie haben wir die beiden Hauptströmungen des Idealismus also des Gedachten und der Gehirntätigkeit auf der einen
Seite und des Materialismus also der
äußeren Form und der materiellen Aspekte dieser Welt auf der anderen Seite. Beide
sind zwar weit entwickelt aber einseitig und ungeeignet, um das wirkliche Leben
philosophisch angemessen zu erfassen. Eine Philosophie
des Handelns ist im Westen schwer vorstellbar, obgleich doch Aktivität und
Handeln einen so hohen Stellenwert in der westlichen Kultur und Technik haben.
Durch die genaue
Untersuchung der Theorie und Praxis des Handelns kann der Buddhismus daher für
den Westen erhebliche realistische Verbesserungen der Lebensverständnisse
erbringen. Außerdem ist Handeln wesentliche Grundlage des Erwachens und der
Erleuchtung, die sich weder durch Idealismus noch durch Materialismus
verwirklichen lassen.
Vers 1
Ich unterscheide hier, ob es
sich beim Handeln um bewusste Absicht und Ergebnisorientierung handelt oder nicht.
Das einfache Tun und Handeln, bei denen die Absicht entweder überhaupt keine
Rolle spielt oder unwichtig ist, möchte ich daher als Handeln bezeichnen und davon absichtsvolles
Verhalten und zweckhaftes Benehmen abgrenzen. Bei dem Begriff Verhalten schwingt auch die Bedeutung
von „Wohlverhalten“ im Sinne von Konventionen und Ethik mit. Es geht also auch
um gesellschaftlich übliches und zugelassenes Benehmen und Verhalten.
Menschen und Dinge werden
von Nagarjuna nicht als statische und wesentliche Entitäten verstanden, sondern es geht um das Handeln als solches.
Insofern ist der Mensch daher Träger der
Handlungen und ist kein dauerhaftes abgegrenztes Ich als unveränderliches
Subjekt. Damit wird ein radikaler Paradigmenwechsel vollzogen, bei dem nicht
mehr der Mensch als Entität und Person im Mittelpunkt steht, sondern seine
Handlungen.
Das äußere Verhalten des
Menschen ist die externe Seite des Handelns. Es gibt also eine äußere Seite des
Handelns, die wir formal auch beobachten können und eine andere Seite, die das
Handeln als solches betrifft.
Wirkliche Handlungen sind
niemals abstrakt, auch wenn wir sie in Worten
formulieren und Vorstellungen dazu
haben. Dieses können wir als abstrakte
Vorstellung des Handelns bezeichnen, aber wir müssen beachten, dass in der
Wirklichkeit die abstrakte und konkrete Seite des Handelns eine Einheit bildet.
Besonders im Westen haben
wir meist ein Weltbild, dass die Dinge dieser Welt mehr oder minder dauerhaft und
unabhängig bestehen, also vom Handeln unabhängig sind. Dies ist eine sehr
eingeengte Sichtweise, die der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Im Buddhismus
lehnen wir eine solche Welt der Dinge und
Ideen ab und gründen die wahre Lebensphilosophie auf das Handeln und
Entstehen im gegenwärtigen Augenblick. Das Handeln kann niemals von der Welt
verschieden sein. Die buddhistische Lehre und Praxis ist daher aus meiner Sicht
sehr viel umfassender und realitätsnäher als der westliche Idealismus und
Materialismus.
Besonders deutlich wird das
bei Rene Descartes, der behauptet: „Ich denke, also bin ich.“ Auch der
Materialismus, der sich nur auf Wahrnehmung und materielle Zusammenhänge stützt,
kann die Wirklichkeit nicht umfassend beschreiben.
Im Buddhismus kann man
formulieren:
„Ich handele, deshalb existiert das Universum.“
Dabei darf das Ich nicht individualistisch verstanden
werden. Besser wäre eine Formulierung:
„Handlung ereignet sich, daher existiert das
Universum.“
Das klingt sicher für
westliche Ohren befremdlich, trifft aber den Kern der umfassenden
buddhistischen Lehre und Praxis.
Danach können wir wirkliches
Handeln im Augenblick und das wirkliche Universum nicht trennen, denn beides
ist eine Einheit und ganz genau die Wirklichkeit.
Dieser Vers beschreibt den
Kern des Buddhismus: Die Wirklichkeit ist eine Einheit von wirklichem Handeln
im gegenwärtigen Augenblick und der wirklichen Welt selbst. Die Wirklichkeit
ist total verschieden von abstrakten Überlegungen und Konzepten, oder von der
externen Sichtweise des äußeren Verhaltens.
Vers 2
Wenn die Handlung in der realen
Welt überhaupt nicht vorhanden ist, gibt es auch keine Beziehung zum konkreten
Handeln. Dies gibt es häufiger, wenn man z. B. an hypothetische Situationen
denkt und die klare Abgrenzung zur Wirklichkeit vergisst.
Selbstverständlich sind
alternative Denkprozesse und Planungen für die Zukunft sinnvoll. Sie sollten so
konkret und realistisch wie möglich sein, aber sie sind noch nicht das Handeln
selbst. Wenn nicht gehandelt wird, ist auch die Vorstellung eines handelnden Menschen hypothetisch und meistens
bedeutungslos oder sogar gefährlich.
Vor allem ist es sinnlos,
das Handeln von dem Menschen, der handelt, zu trennen: „Wir sind unsere
Handlungen“. Wenn wir uns klar darüber sind, was die abstrakte Welt ist und was
konkretes Handeln ist, besteht die Möglichkeit, dass beides eine Einheit
bildet.
Aber es ist nicht möglich, dass wir das Handeln in
seiner ganzen Fülle und Breite intellektuell
verstehen. Dasselbe gilt für den Menschen, der handelt, denn in der
Wirklichkeit ist das Handeln intellektuell nicht zu verstehen, aber beides
existiert als Einheit.
Vers 4
Nagarjuna beschreibt hier das
Handeln genauer und sagt, dass wir aufrichtig, ehrlich und offen beim Handeln
sein sollen. Ist das nicht der Fall, erkennen wir weder, wie und wann die
Handlung vollendet ist, noch können wir uns über die wahren Ursachen klar
werden.
Das Gleiche gilt für die
physikalische Seite des Handelns, die genauso zur Einheit gehört. Es kommt also
nicht zuletzt auf die ganz genaue Beobachtung des Handelns bei sich und anderen
an. Dies ist besonders bei der Ausübung von Kunst z.B. der Musik oder beim
Sport offensichtlich und gilt für jede Form der Feinkoordinierung.
Vers 5
In dieser Welt gibt es
Prozesse, die dem Gesetz des Universums folgen und solche, die diesem Gesetz
nicht folgen. Wenn das wirkliche Handeln nicht existiert, kann dies nicht
wahrgenommen werden.
Wenn die Welt und das
Universum nicht wirklich sind, kann ein Ergebnis des Handelns, das konkret
erzeugt wurde, nicht klar wahrgenommen werden. Es gibt ebenfalls keine klare
Wahrnehmung für die nicht-reale Welt, die sich nicht an das Gesetz des
Universums hält.
Wir neigen häufig dazu, die
Gesetze des Universums zu negieren z.B. die naturwissenschaftlichen Gesetze.
Nagarjuna spricht in diesem
Vers das Ergebnis des Handelns an, das wörtlich übersetzt Frucht heißt. Bei der Karma-Lehre und der Wiedergeburt im alten
Indien kam der Theorie des Ergebnisses beim Handeln eine zentrale Bedeutung zu.
Davon wird im Folgenden noch die Rede sein.
Vers 6
Das höchste Glück und die höchste Zufriedenheit in unserem Leben
verwirklichen sich nur, wenn wir einen klaren Sinn für die Realität bei unseren Handlungen haben.
Dazu gehört nicht zuletzt Klarheit
in Ethik und Moral beim Handeln. Die Idee allein, ohne Anhaftung zu sein, und
auch die Vorstellung eines edlen Zieles reichen nicht aus für glückliches
Handeln und Leben. Gerade überzogene
unrealistische Ziele, die nicht mit dem Handeln überstimmen, sind oft die
Ursache für Unglück bei uns selbst und anderen.
Vers 7
Die Wirklichkeit ist kein
dauerhafter starrer Zustand, auf dessen Grundlage sich Handeln vollzieht. Das
Umgekehrte ist richtig: Die Einheit vom Konkreten und Abstrakten des Handelns
ist die Wirklichkeit, die auf dem
Handeln im Augenblick beruht. Die Wirklichkeit hat keine dinghafte Natur, die dauerhaft ist.
Abstrakte Ideen allein
können niemals Wirklichkeit sein, und die ideelle und materielle Seite des
Handelns und der Wirklichkeit bilden immer eine Einheit.
Vers 8
Wenn wir die Welt in Abstraktes
und Materiell/Konkretes unterteilen und davon ausgehen, dass dies zwei völlig
verschiedene Dimensionen sind, kann es keine Beziehung zwischen dem Abstrakten
und dem Materiellen geben. Das bedeutet, dass abstrakte Ideen und Vorstellungen
nicht das Produkt der materiellen Seite sein können. Es gilt auch das
Umgekehrte, dass die materielle Sicht und Seite dieser Welt von sich aus nichts
Abstraktes, z.B. spirituelle Bereiche erzeugen kann.
In der wirklichen Welt geht
es jedoch um das Handeln und nicht um
den Glauben und die Vorstellungen über Ideelles und
Materielles. Sogar moralische Fehler können nur durch das Handeln von Menschen
entstehen. Wenn wir nur physisch materiell denken, gibt es allerdings keine
Fehler und Sünden. Das ist nicht zu vertreten. Umgekehrt erzeugen keine
abstrakten Fehler und Sünden einen konkreten Menschen, der sie begehen könnte.
Handeln ist immer eine Einheit von Abstrakten und Konkreten.
Vers 9
Weder das Absolute allein
noch das Materielle allein kann die reale Welt erzeugen. Diese ist immer eine
Einheit von Abstraktem und materiell Konkretem.
Die Wirklichkeit kann daher
niemals durch Abstraktes wie die mentale oder spirituelle Seite des Menschen
erzeugt werden. Das Gleiche gilt für die materielle Seite des Lebens und der
Welt, die niemals eine wahre Grundlage der Wirklichkeit sein kann. Die
Wirklichkeit kann nicht auf eines der beiden nämlich das Abstrakte oder
Materielle reduziert werden.
Handeln oder das Verhalten
eines Menschen vollzieht sich unmittelbar
im Augenblick und kann nur unvollständig mit Worten beschrieben werden.
Dies ist insbesondere im Augenblick des Handelns selbst unmöglich. Gleiches
gilt für das Denken, das im Allgemeinen vor oder nach dem Handeln stattfindet.
Mentale Gedanken und Bilder sind viel langsamer als das Handeln im Augenblick.
Vers 10
Nagarjuna betont noch
einmal, dass die Wirklichkeit von uns selbst und von der Welt nicht durch
abstrakte Spiritualität erzeugt wird. Sie ist vielmehr die Einheit der Dinge
und Phänomene, die direkt vor uns sind, und dem Abstrakten also dem Ideellen
der Kreativität z.B. in der Kunst oder im Spirituellen.
Er stellt die Praxis des Handelns in den Mittelpunkt
des zweiten Verses, das unmittelbar direkt und viel schneller als das Denken
abläuft. Die Wirklichkeit des Handelns in der Gegenwart, und zwar genau im
Augenblick, ist etwas fundamental Anderes als die Erinnerung an Vergangenes und
die Erwartung des Zukünftigen.
Vers 11
Die Welt als Realität bewegt
sich genauso, wie sie ist und zwar in der Einheit des Abstrakten und
Materiell-Konkreten. Und Beides verwirklicht sich im Handeln selbst.
Diskussionen und
Überlegungen, und seien sie noch so klug und tiefgründig, können nicht gleichzeitig mit dem Handeln im
Augenblick vor sich gehen. Dazu ist der Augenblick viel zu kurz. Und selbst
erweitertes intuitives Verstehen kann
erst nach dem Handeln formuliert und
kommuniziert werden.
Im menschlichen Gehirn
bleiben gewissermaßen mentale und
intellektuelle Rückstände des Handelns selbst gespeichert, die Grundlage
und Inhalt der nachfolgenden Diskussion sind. Wirkliche Kommunikation ist
allerdings mehr als nur der Austausch von erinnerten Informationen, sondern ist
wechselseitige Anregung der kommunizierenden Menschen. Auch solche
Kommunikation hat eine andere Qualität als die Wirklichkeit des Handelns im
Augenblick, obgleich sie viel zur Klärung und Erweiterung des Selbst beitragen
kann.
Vers 12
Verhalten bedeutet eine
Verallgemeinerung der vielfältigen Handlungen, die wir generell oder aber auch
in einer bestimmten Situation durchführen. Insofern sind Handeln und Verhalten
miteinander unlösbar verbunden. Allerdings sind dies verschiedene Begriffe, mit
unterschiedlicher Breite der Bedeutungen. Handeln ist das konkrete Augenblicks-bezogene,
während Verhalten eher generalisiert und eventuell sogar bewertend ist.
Handeln ist immer eine
Einheit im Augenblick. Es ist nicht gespalten in verschiedene Teile und schon
gar nicht von dem mitlaufenden Bewusstsein im Augenblick.
Wenn wir frei von Vorurteilen, Diffamierungen und
Verzerrungen sind, ist dies die Ursache für Glück und Ausgeglichenheit. Der
große Zen-Meister Sosan sagt: „Der
buddhistische Weg ist nicht schwierig. Vermeide nur (etwas) herauszupicken und
(bewertend) zu wählen.“ Um derartig ideologiefrei
zu leben bedarf es selbstverständlich der inneren Ruhe und des Gleichgewichts
der Mitte.
Vers 13
Obgleich es immer wieder
Momente gibt, in denen wir handeln, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, ist es die reale Wirklichkeit so lange wir handeln.
Beim Handeln gibt es ein mitlaufendes Bewusstsein und viele Handlungen im
täglichen Leben sollten auch in der Tat bewusst durchgeführt werden. Aber das
Denken steht nicht im Vordergrund und ist oft sogar störend. Dies gilt
besonders wenn wir intensiv oder krampfhaft an das Ergebnis eines Handelns
denken, dass wir anstreben oder dass wir uns vor dem Versagen fürchten.
Handeln und Mensch können
nicht sinnvoll getrennt werden. Genau
genommen gibt es überhaupt keine Menschen ohne Handeln, denn selbst wenn wir
schlafen, ereignet sich physisch und psychisch Augenblick für Augenblick etwas,
das wir auch als Handeln bezeichnen können.
Alle Dinge und Phänomene
werden aufrechterhalten und entwickelt in der Einheit von Handeln und Mensch. Aber der Mensch darf sich nicht auf
sein abgegrenztes Ich verkürzen,
sondern ist nur im Gleichgewicht, wenn er als offenes Selbst handelnd sich
selbst und das Universum verwirklicht. Das ist die Bedeutung des Mittleren Weges.
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