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Meister Nishijima praktiziert Buddhismus seit über 60 Jahren. Er war Schüler von Meister Kodo Sawaki, einem japanischen umherziehenden Priester, der berühmt dafür war unermüdlich zu betonen, dass die Praxis des Zazen ihren richtigen zentralen Platz im Buddhismus erhält und der selbst intensiv praktizierte. Meister Nishijima wurde von Meister Renpo Niwa als Priester ordiniert, der später als Abt den Zentraltempel des Soto-Buddhismus leitete. Nishijima Roshi hat viele Bücher über Buddhismus u.a. von Dogen sowohl in Japanisch als auch in Englisch geschrieben. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren hat er in Japanisch und Englisch viele Vorträge gehalten, Seminare und Sesshins geleitet sowie genaue Anweisungen zum Buddhismus und vor allem zum Zazen gegeben. Deutsche Fassung: Yudo J. Seggelke

Sonntag, 7. Juli 2013

Untersuchung des Augenblicks genau vor der Gegenwart (Purva pariksha) Nagarjuna, MMK, Kapitel 9


Meister Dôgen benutzt in Japanisch im Shôbôgenzô das Wort kisen , bei dem ki Wandel oder gegenwärtiger Augenblick und sen vorher bedeutet. Ich übersetze das Sanskritwort purva im selben Sinne. Es handelt sich also um die Untersuchung des unmittelbaren vorherigen Augenblicks.

Der gegenwärtige Augenblick hat im Buddhismus eine außerordentlich große Bedeutung, da er genau der Zeitpunkt des Handelns ist und von der vorherigen Zeit, also der Vergangenheit, und der zukünftigen Zeit radikal unterschieden ist. Sowohl die Wahrnehmung als auch das intellektuelle Denken haben aber immer eine Zeitverzögerung gegenüber dem wirklichen Augenblick des Geschehens. Wenn wir etwas beobachten oder denken, ist es daher schon vergangen, denn es hat im vorherigen Augenblick stattgefunden.

Vers 1
Die Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Hören usw. ereignen sich im gegenwärtigen Augenblick, aber ganz genau genommen ist es ein Abbild eines Vorgangs, der kurz vorher stattgefunden hat. Die Realität existiert daher bei der Wahrnehmung um einen kleinen Bruchteil früher als wir meinen.

Diese Aussage Nagarjunas wird durch die heutige biologische Forschung bestätigt.

Vers 2
Im Buddhismus der ganzheitlichen Praxis und Erfahrung gibt es einen Unterschied zwischen der Wahrnehmung des Menschen als Tun und dem sogenannten Objekt der Wahrnehmung. Wenn die Wahrnehmung daher nicht tätig ist, kann für uns überhaupt nichts existent sein. Die Wahrnehmung hat also eine sehr hohe Bedeutung für die Wirklichkeit, auch wenn sie unvollkommen ist. Aber die Wahrnehmung ist auch nicht die ganze Wirklichkeit, da sie nur die materielle Sicht und die Form erkennt.

Vers 3
Die Sinneswahrnehmung beruht nur auf der Wirklichkeit selbst. Dies können wir auch als „reine“ Sinneswahrnehmung verstehen. Dabei ist sie durchaus unvollständig oder sogar fehlerbehaftet.

Eine solche reine Sinneswahrnehmung ereignet sich, bevor wir sie ordnen, einordnen oder bewerten. Denn dies sind mentale und psychische Vorgänge, die später nachfolgen.

Das Gesehene oder Gehörte usw. wird von uns in einen geordneten Zusammenhang gebracht und so mental verarbeitet. Es geht nicht zuletzt um psychische Einflüsse, dass wir z. B. in einer etwas unklaren Situation das sehen, was wir unbedingt sehen wollen, oder das nicht sehen, was wir unbedingt nicht sehen wollen.

Vers 4
Die Dinge und Phänomene des Universums existieren in einer stabilen Gesamtsituation und zwar auch dann, wenn unsere Sinneswahrnehmungen nicht tätig sind. Beim Universum handelt es sich um ein dynamisches Gleichgewicht, z. B. wenn die Planeten einschließlich der Erde um die Sonne kreisen, und das Sonnensystem wiederum Teil eines größeren sich bewegenden Spiralnebels ist.

Nagarjuna betont ein solches Gleichgewicht als wesentliche Basis der Wirklichkeit. In unserem Leben können wir daher mit Zuversicht in die Zukunft schauen, da wir davon ausgehen können, dass die Dinge und Phänomene unserer Umgebung eine gewisse Verlässlichkeit haben. Die von Menschen erzeugten Katastrophen wie Kriege und Unterdrückung oder auch Naturkatastrophen sind demgegenüber eher zeitliche Ausnahmen, die allerdings meist eine übergroße Bedeutung in unserem Bewusstsein und unserer Psyche haben.

Im Buddhismus wird der Ozean oft als Gleichnis für diese Aussagen der Ruhe und Ausgeglichenheit verwendet: selbst wenn die Oberfläche vom Sturm aufgewühlt ist, hat der Ozean insgesamt in seiner Tiefe und seiner Breite eine ruhige Stabilität, die für unser Leben beispielhaft sein kann.

Vers 5
Das Gesetz von Ursache und Wirkung erzeugt Prozesse und Bewegungen; dabei halten bestimmte Dinge die anderen Dinge in Gang.

Diese aufeinander bezogenen und wechselseitig angestoßenen Bewegungen laufen auch ab, wenn wir sie nicht beobachten und nicht sehen können. Vieles können wir nicht direkt mit unseren Augen sehen und selbst mit modernen Instrumenten kann alles, was es im Universum gibt, nur näherungsweise beobachtet werden.

Vers 6
Der vorherige Augenblick kann niemals wirklich erkannt oder ergriffen werden. Er ist unabänderlich vorbei und ist Vergangenheit. Daher hat er nicht die Qualität der Wirklichkeit.

Dies gilt selbstverständlich auch für die Wahrnehmung wie Sehen oder Hören. Irgendeine Situation in der Vergangenheit, und sei es in dem gerade vorangegangenen Augenblick, können wir nicht sehen, sondern haben lediglich ein Bild im Bewusstsein; das ist eine Kopie des früher Wahrgenommenen.

Gefühlsmäßig haben wir die Tendenz anzunehmen, dass das Frühere und das Zukünftige fast wie die Wirklichkeit irgendwo existiert. Aber das ist ein Irrtum und entspricht nicht der Realität.

Vers 7
Der Augenblick, den es genau vor der Gegenwart gab, kann nur intuitiv erkannt und wahrgenommen werden. Der zeitliche Abstand von der Gegenwart ist dabei so klein, dass die Wahrnehmung dabei zu langsam ist.

Die Intuition beruht  auf einer Wirkung, die von der vorherigen Ursache abgegrenzt ist. Aber nach buddhistischer Lehre gibt es trotzdem die Dinge und Phänomene als Wirklichkeit im Augenblick. Sie sind nicht nur  Bilder und Vorstellungen in unserem Gehirn.

Vers 8
Sehen, Hören und die anderen Sinneswahrnehmungen sind wirklich und Teil des Handelns. Demgegenüber ist der vorherige Augenblick bereits von den Tatsachen der Wirklichkeit abgelöst, und diese Tatsachen der Gegenwart haben auf die Vergangenheit keinen Einfluss mehr.

Der vorherige Augenblick hat als eigenständige Wirklichkeit das Universum bereits verlassen, allerdings setzen sich die Wirkungen weiter fort und zwar für immer.

Vers 9
Jede Veränderung und jeder Wandel kommt im menschlichen Geist durch Vergleiche der Vergangenheit mit der Gegenwart zustande. Im Augenblick selbst gibt es keinen Wandel weil die Zeitstrecke viel zu kurz ist.

Veränderungen sind nicht zuletzt ein gesellschaftlicher Konsens, der oft nicht hinterfragt wird, sie werden wie eine Tatsache gedacht und kommuniziert.

Nicht zuletzt naive Änderungstheorien über die Welt und die Gesellschaft haben schon immer Konjunktur gehabt und sind beliebt bei den Menschen. Dabei sind die von Göttern hervorgerufenen nicht immer positiven Veränderungen in vielen Religionen besonders wichtig, obgleich sie keine Wirklichkeit sein mögen.

Vers 10
Die wirklichen Wahrnehmungen wie Sehen, Hören usw. existieren genau im gegenwärtigen Augenblick.

Die konkreten Dinge und Phänomene existieren dabei in den Sinneswahrnehmungen, aber deren Realität gibt es niemals in der Vergangenheit.

Nach der buddhistischen Lehre und Praxis gibt es im wahren existentiellen Sein des Menschen keine Trennung von Subjekt und Objekt also von einem Ding, das wir sehen, unserer Wahrnehmung und dem Bewusstsein oder dem Bild in unserem Geist. Die Vergangenheit gibt es nur in unserem Geist.

Vers 11
Die Wahrnehmung durch die Sinne existiert nur im gegenwärtigen Augenblick und in der realen Welt. Wenn wir diese Realität nicht erkennen können, ist es völlig ausgeschlossen, die wirklichen Dinge und Phänomene dieser Welt zu erkennen und in die Wirklichkeit unsere Lebens einzubeziehen.

Vers 12
Der vorherige Augenblick schafft eine stabile Ausgangssituation, die auf den gegenwärtigen Augenblick einwirkt. Die Wirklichkeit des Augenblicks können wir dann mit unseren Sinnesfunktionen wahrnehmen.

Obwohl der vorherige Augenblick in Bezug auf die Wirklichkeit durchaus gewisse Unklarheiten besitzt, können wir trotzdem auf die Wirklichkeit vertrauen, die im gegenwärtigen Augenblick bereits da ist.


Wir können daher tatsächlich auf den vorherigen Augenblick vertrauen, obgleich wir mit dem Verstand niemals vollständig klären können, was der vorherige Augenblick gewesen ist.

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