Meister
Dôgen benutzt in Japanisch im Shôbôgenzô das Wort kisen , bei dem ki Wandel oder
gegenwärtiger Augenblick und sen vorher
bedeutet. Ich übersetze das Sanskritwort purva
im selben Sinne. Es handelt sich also um die Untersuchung des unmittelbaren
vorherigen Augenblicks.
Der
gegenwärtige Augenblick hat im Buddhismus eine außerordentlich große Bedeutung,
da er genau der Zeitpunkt des Handelns ist und von der vorherigen Zeit, also
der Vergangenheit, und der zukünftigen Zeit radikal unterschieden ist. Sowohl
die Wahrnehmung als auch das intellektuelle Denken haben aber immer eine
Zeitverzögerung gegenüber dem wirklichen Augenblick des Geschehens. Wenn wir
etwas beobachten oder denken, ist es daher schon vergangen, denn es hat im
vorherigen Augenblick stattgefunden.
Vers
1
Die
Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Hören usw. ereignen sich im gegenwärtigen
Augenblick, aber ganz genau genommen ist es ein Abbild eines Vorgangs, der kurz vorher
stattgefunden hat. Die Realität existiert daher bei der Wahrnehmung um einen
kleinen Bruchteil früher als wir meinen.
Diese
Aussage Nagarjunas wird durch die heutige biologische Forschung bestätigt.
Vers
2
Im
Buddhismus der ganzheitlichen Praxis und Erfahrung gibt es einen Unterschied
zwischen der Wahrnehmung des Menschen als Tun und dem sogenannten Objekt der
Wahrnehmung. Wenn die Wahrnehmung daher nicht tätig ist, kann für uns überhaupt
nichts existent sein. Die Wahrnehmung hat also eine sehr hohe Bedeutung für die
Wirklichkeit, auch wenn sie unvollkommen ist. Aber die Wahrnehmung ist auch nicht
die ganze Wirklichkeit, da sie nur die materielle Sicht und die Form erkennt.
Vers
3
Die
Sinneswahrnehmung beruht nur auf der Wirklichkeit selbst. Dies können wir auch
als „reine“ Sinneswahrnehmung verstehen. Dabei ist sie durchaus unvollständig
oder sogar fehlerbehaftet.
Eine
solche reine Sinneswahrnehmung ereignet sich, bevor wir sie ordnen, einordnen
oder bewerten. Denn dies sind mentale und psychische Vorgänge, die später nachfolgen.
Das
Gesehene oder Gehörte usw. wird von uns in einen geordneten Zusammenhang
gebracht und so mental verarbeitet. Es geht nicht zuletzt um psychische
Einflüsse, dass wir z. B. in einer etwas unklaren Situation das sehen, was wir
unbedingt sehen wollen, oder das nicht sehen, was wir unbedingt nicht sehen
wollen.
Vers
4
Die
Dinge und Phänomene des Universums existieren in einer stabilen Gesamtsituation
und zwar auch dann, wenn unsere Sinneswahrnehmungen nicht tätig sind. Beim
Universum handelt es sich um ein dynamisches Gleichgewicht, z. B. wenn die
Planeten einschließlich der Erde um die Sonne kreisen, und das Sonnensystem
wiederum Teil eines größeren sich bewegenden Spiralnebels ist.
Nagarjuna
betont ein solches Gleichgewicht als wesentliche Basis der Wirklichkeit. In
unserem Leben können wir daher mit Zuversicht in die Zukunft schauen, da wir
davon ausgehen können, dass die Dinge und Phänomene unserer Umgebung eine gewisse
Verlässlichkeit haben. Die von Menschen erzeugten Katastrophen wie Kriege und
Unterdrückung oder auch Naturkatastrophen sind demgegenüber eher zeitliche
Ausnahmen, die allerdings meist eine übergroße Bedeutung in unserem Bewusstsein
und unserer Psyche haben.
Im
Buddhismus wird der Ozean oft als
Gleichnis für diese Aussagen der Ruhe und Ausgeglichenheit verwendet: selbst
wenn die Oberfläche vom Sturm
aufgewühlt ist, hat der Ozean insgesamt in seiner Tiefe und seiner Breite eine ruhige Stabilität, die für unser Leben
beispielhaft sein kann.
Vers
5
Das
Gesetz von Ursache und Wirkung erzeugt Prozesse und Bewegungen; dabei halten bestimmte Dinge die anderen Dinge in Gang.
Diese
aufeinander bezogenen und wechselseitig angestoßenen Bewegungen laufen auch ab,
wenn wir sie nicht beobachten und nicht sehen können. Vieles können wir nicht
direkt mit unseren Augen sehen und selbst mit modernen Instrumenten kann alles,
was es im Universum gibt, nur näherungsweise beobachtet werden.
Vers
6
Der
vorherige Augenblick kann niemals wirklich erkannt oder ergriffen werden. Er
ist unabänderlich vorbei und ist Vergangenheit. Daher hat er nicht die Qualität
der Wirklichkeit.
Dies
gilt selbstverständlich auch für die Wahrnehmung wie Sehen oder Hören.
Irgendeine Situation in der Vergangenheit, und sei es in dem gerade
vorangegangenen Augenblick, können wir nicht sehen, sondern haben lediglich ein
Bild im Bewusstsein; das ist eine Kopie des früher Wahrgenommenen.
Gefühlsmäßig
haben wir die Tendenz anzunehmen, dass das Frühere und das Zukünftige fast wie
die Wirklichkeit irgendwo existiert. Aber das ist ein Irrtum und entspricht
nicht der Realität.
Vers
7
Der
Augenblick, den es genau vor der Gegenwart gab, kann nur intuitiv erkannt und
wahrgenommen werden. Der zeitliche Abstand von der Gegenwart ist dabei so
klein, dass die Wahrnehmung dabei zu langsam ist.
Die Intuition beruht auf einer Wirkung, die von der vorherigen Ursache abgegrenzt
ist. Aber nach buddhistischer Lehre gibt es trotzdem die Dinge und Phänomene
als Wirklichkeit im Augenblick. Sie sind nicht nur Bilder und Vorstellungen in unserem Gehirn.
Vers
8
Sehen,
Hören und die anderen Sinneswahrnehmungen sind wirklich und Teil des Handelns.
Demgegenüber ist der vorherige Augenblick bereits von den Tatsachen der
Wirklichkeit abgelöst, und diese Tatsachen der Gegenwart haben auf die
Vergangenheit keinen Einfluss mehr.
Der
vorherige Augenblick hat als eigenständige
Wirklichkeit das Universum bereits verlassen, allerdings setzen sich die
Wirkungen weiter fort und zwar für immer.
Vers
9
Jede
Veränderung und jeder Wandel kommt im menschlichen Geist durch Vergleiche der
Vergangenheit mit der Gegenwart zustande. Im Augenblick selbst gibt es keinen Wandel weil die Zeitstrecke viel
zu kurz ist.
Veränderungen
sind nicht zuletzt ein gesellschaftlicher Konsens, der oft nicht hinterfragt
wird, sie werden wie eine Tatsache gedacht und kommuniziert.
Nicht
zuletzt naive Änderungstheorien über die Welt und die Gesellschaft haben schon immer
Konjunktur gehabt und sind beliebt bei den Menschen. Dabei sind die von Göttern
hervorgerufenen nicht immer positiven Veränderungen in vielen Religionen besonders
wichtig, obgleich sie keine Wirklichkeit sein mögen.
Vers
10
Die
wirklichen Wahrnehmungen wie Sehen, Hören usw. existieren genau im
gegenwärtigen Augenblick.
Die
konkreten Dinge und Phänomene existieren dabei in den Sinneswahrnehmungen, aber
deren Realität gibt es niemals in der Vergangenheit.
Nach
der buddhistischen Lehre und Praxis gibt es im wahren existentiellen Sein
des Menschen keine Trennung von Subjekt
und Objekt also von einem Ding, das wir sehen, unserer Wahrnehmung und dem
Bewusstsein oder dem Bild in unserem Geist. Die Vergangenheit gibt es nur in
unserem Geist.
Vers
11
Die
Wahrnehmung durch die Sinne existiert nur im gegenwärtigen Augenblick und in
der realen Welt. Wenn wir diese Realität nicht erkennen können, ist es völlig
ausgeschlossen, die wirklichen Dinge und
Phänomene dieser Welt zu erkennen und in die Wirklichkeit unsere Lebens
einzubeziehen.
Vers
12
Der
vorherige Augenblick schafft eine stabile Ausgangssituation, die auf den gegenwärtigen
Augenblick einwirkt. Die Wirklichkeit des Augenblicks können wir dann mit
unseren Sinnesfunktionen wahrnehmen.
Obwohl
der vorherige Augenblick in Bezug auf die Wirklichkeit durchaus gewisse
Unklarheiten besitzt, können wir trotzdem auf die Wirklichkeit vertrauen, die
im gegenwärtigen Augenblick bereits da ist.
Wir
können daher tatsächlich auf den vorherigen Augenblick vertrauen, obgleich wir
mit dem Verstand niemals vollständig klären können, was der vorherige
Augenblick gewesen ist.
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