Die
materiellen Elemente der indischen Philosophie unterscheiden sich von den
Elementen der naturwissenschaftlichen und technischen Forschung der Gegenwart.
Die materiellen Elemente sind: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum.
Dabei
steht das Element Erde für feste Materie, Wasser für Flüssiges, Feuer für
Verbrennung, Luft für Gase und der Raum gibt die reale räumliche Dimension
dieser Welt wieder. Die indische Gliederung der physikalischen Elemente ist also
wesentlich einfacher als bei uns, denn wir definieren die Elemente auf der
Grundlage der Atome und Moleküle, unabhängig von den Aggregatzuständen fest,
flüssig und gasförmig. Gleichwohl sind indischen Elemente für die
Untersuchungen Nagarjunas durchaus sinnvoll. Denn sie spiegeln die materielle
Welt wider, die wir auch als Außenbereich und Umgebung verstehen können. Dabei
ist die räumliche Dimension besonders wichtig, denn sie unterscheidet die
materielle von der idealistischen Lebensdimension, in der es im Allgemeinen
keine räumliche Zuordnung gibt.
Häufig
wird im Buddhismus auch von der Form gesprochen, die eine materielle Dimension
dieser Welt ist und dreidimensional räumlich verstanden wird. Es ist daran zu
erinnern, dass die materialistische Weltsicht und Lebensphilosophie eine
Trennung von Subjekt und Objekt beinhaltet, sodass sie nur als Teilwahrheit
verstanden werden kann. Naturwissenschaft und Technik gehören dieser materiellen
Teilwirklichkeit an. Wir dürfen dabei nicht vergessen, welch große Fortschritte
diese Denkweise für die Menschheit erbracht hat, aber welche Gefahren auch in
der Einseitigkeit dieser Weltsicht entstehen können. Wenn das Materialistische
im menschlichen Leben überwiegt, fehlen ideelle und spirituelle Bereiche und oft
wird nur nach materiellem Vorteil und Genuss gestrebt. Dabei verödet das Leben.
Nagarjuna
untersucht in diesem Kapitel beispielhaft den Raum und sagt, dass die anderen
materiellen Elemente in gleicher Weise zu verstehen sind.
Eine
umfassende Sicht unseres Lebens und der Welt beschränkt sich aber nicht auf die
materielle Dimension. Form und Inhalt bilden immer eine Einheit, wenn wir
wirkliche Erfahrung voraussetzen. Sie lassen sich nur im Denken und in der
Theorie als zwei verschiedene Dimensionen unterscheiden. Da die buddhistische
Lehre über den Materialismus und die materielle Dimension hinausgeht, besteht
daher immer eine solche Einheit von äußerer Form und sinnhaftem Inhalt.
Vers
1
Wir
können den wirklichen Raum, so wie er ist, erfahren und erleben, wenn die
objektiven Charakteristika und die subjektiven Vorstellungen eine Einheit
bilden. Bei einer Abspaltung der materiellen Dimension vom Inhalt können wir
also die Wirklichkeit und Wahrheit nicht erfahren und nicht erkennen.
Charakteristika
und Merkmale sind vom Menschen hinzugesetzt und sind eigentlich in der
Wirklichkeit nicht vorhanden. Wenn also die Charakteristika verschwinden kann
die wirkliche Welt realisiert werden.
Eine
Situation ohne Charakteristika mag daher unser ursprünglicher Zustand sein, in
dem wir uns noch nicht von der Wirklichkeit getrennt haben. Dann kommen unsere
intuitiven Fähigkeiten zum Zuge und wir können unser Handeln und Leben klar und
umfassend gestalten. Für Künstler und Sportler ist es unumgänglich, das
unterscheidende Beobachten und Denken auszuschalten, um ihre vorhandenen
Fähigkeiten „abrufen“ zu können.
Besonders
wirkungsvoll ist in diesem Sinne die Praxis des Zazen.
Vers
2
Wir
ordnen den Dingen, die uns umgeben, meist bestimmte Charakteristika zu, die oft
sogar willkürlich gewählt werden. Dadurch können wir die Dinge von einander
unterscheiden und uns in der Welt mit anderen verständigen.
Besonders
bewertende Charakteristika und Merkmale bergen aber die Gefahr in sich, dass
wir sie wie Wirklichkeiten verstehen und kommunizieren. Dadurch können wir uns
selbst und andere leicht täuschen.
Vers
3
Nagarjuna
vertieft seine Überlegungen zu den Charakteristika der Dinge, also die
räumlichen Unterscheidungen und Merkmale. Dies soll an einem Beispiel
verdeutlicht werden.
Wenn
wir z.B.: von einem Wasserstrudel reden und dabei auf die Gefahren hinweisen,
die er für Schwimmer oder kleine Boote bedeutet, so ist dies effizient und
nützlich zur Kommunikation, aber der Wasserwirbel ist selbstverständlich Teil
des Flusses und besteht wie dieser aus Wasser. Eigentlich ist daher der Strudel
gar nicht getrennt vom Wasser und kein eigenes Ding. Die Merkmale des Strudels
sind in Bezug auf die Gefahren besonders wichtig, sind also Attribute, die wir
an den bestimmten Ort im Wasser zuordnen. Der Strudel kann z.B. einen Schwimmer
in die Tiefe ziehen, sodass er in große Gefahr kommt oder sogar ertrinkt.
Wenn
wir die Charakterisierung durch einen Strudel, die wir selbst vornehmen,
weglassen, so beschreibt dies die Wirklichkeit ohne Merkmale. Die Beschreibung
des Wasser-Wirbels würde dann nur so lauten, dass er sich in bestimmter Weise
im Kreis dreht, aber eine Bewertung nach der Gefährlichkeit würde entfallen.
Nagarjuna
sagt uns damit, dass wir bewertende Charakteristika immer in der Einheit mit
den Dingen und Phänomenen verstehen und nicht abtrennen.
Vers
4
Wenn
ein Charakteristikum nicht erkannt und gesehen wird, gibt es dieses überhaupt
nicht. Man kann nicht sagen, dass es existiert, denn die Charakteristika sind
nicht unabhängig von der Sache, dem sie zugeordnet sind.
Meist
sind die Charakteristika bildhaft. Wenn die Bilder nicht vorhanden sind, gibt
es demnach auch keine Charakteristika.
Vers
5
Die
kennzeichnenden Bilder müssen klar erkannt werden, damit auch die
Charakteristika erkennbar sind. Die räumlichen Charakteristika sind wie im
vorherigen Vers dargelegt Bilder.
Das
wirkliche Erkennen der Charakteristika ist mit dem wirklichen Erkennen des
Sachverhaltes verknüpft. Wenn wir uns in unserer Vorstellung Merkmale
ausdenken, die mit den Merkmalen der Sache nicht identisch sind, erkennen wir nicht
einmal die materielle Dimension unserer Welt richtig. Das richtige Erkennen der
Charakteristika ist identisch mit den Charakteristika selbst.
Vers
6
Es
ist eine alte Frage der Menschheit, ob die Wirklichkeit existiert oder nicht.
Aufgrund des Denkens im Idealismus und der Wahrnehmung im Materialismus kann
man diese Frage nicht beantworten.
Und sie kann die Menschen endlos beschäftigen und verwirren.
Es
gibt eine intuitive Sicherheit, dass diese Welt wirklich existiert, und damit
die obige Frage überflüssig macht.
Nagarjuna
wurde häufig als Nihilist eingestuft und dass er die Wirklichkeit abstreitet
und für nicht existent erklärt. Dies ist meines Erachtens völlig falsch und
wird heute auch von ernsthaften Wissenschaftlern kaum noch vertreten.
Im
Zen – Buddhismus gibt es viele Geschichten, wie der zweifelnde Geist durch ein
reales Erlebnis durchbrochen wird. Beim Empfinden eines starken Schmerzes ist
für uns die Wirklichkeit unabhängig vom Theoretisieren ganz klar und evident.
Das ist für wissende und unwissende Menschen gleich.
Vers
7
Die
Vorstellungen und Worte von Existenz und Nicht-Existenz müssen von der
Wirklichkeit unterschieden werden. Auch die Einteilung in die fünf materiellen
Elemente sind Konzepte und nicht die Wirklichkeit selbst. Das gedachte Konzept
von Wasser kann niemals unseren Durst löschen.
Vers
8
Die
Wirklichkeit kann als Dinge und Phänomene gesehen werden, die sich direkt vor
uns befinden. Es ist unsinnig diese Welt der Dinge und Phänomene abzustreiten.
Das wäre sehr töricht.
Törichte
Menschen wollen die Wirklichkeit der Dinge und Phänomene nicht sehen, aber die
Dinge und Phänomene sind etwas Ruhiges und Angenehmes.
Dies
mag für Menschen, die in lauten und verunreinigten Städten leben, seltsam oder
sogar absurd erscheinen. Aber es ist von entscheidender Bedeutung, ob wir
selbst im Gleichgewicht und unserem Zentrum leben. Wenn dies der Fall ist,
werden wir von der Unruhe unserer Städte nicht angesteckt, sodass diese Unruhe
eigentlich für den Menschen überhaupt nicht mehr existiert. Dies ist eine
zentrale Aussage der buddhistischen Theorie und Praxis.
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