Das
Beispiel des Feuers hat im alten Indien eine sehr große Bedeutung gehabt: als
Realität, spiritueller Inhalt und in seiner Funktion für die Menschen. Feuer
ist neben anderem ein physikalisches
Element und wird dann rein materiell
verstanden. Was wir in der modernen Naturwissenschaft und Technik als Element
bezeichnen, ist von den altindischen Elementen zum Teil recht verschieden.
Heute basieren Elemente immer auf Atomen, Molekülen oder deren
Elementarteilchen. Die Flamme oder das Feuer würden wir daher nicht als
materielles Element bezeichnen.
Das
Feuer hat für das praktische Leben der Menschen seit seiner Kultivierung eine
sehr große Bedeutung, z.B. für die
Zubereitung des Essens, beim Kochen und Braten. Dadurch konnte die Ernährung
der Menschen schon in archaischen Zeiten wesentlich verbessert werden. In
kalten Regionen wurde das Feuer darüber hinaus zum Heizen verwendet.
In
der frühindischen Religion spielt der Feuergott
eine große Rolle und die Feuerzeremonien,
die von den Brahmanen ausgeführt wurden, hatten zentrale Bedeutung für das
religiöse Leben und den Glauben.
Damit
sind drei wesentliche Bedeutungsfelder des Feuers angesprochen: Eine konkret
materielle als Element, eine in der Funktion für den Menschen und eine
dritte nicht minder wichtige als Abstraktion, Vorstellung und Glaube, einschließlich den darauf aufbauenden
Feuerzeremonien.
Nagarjuna
behandelt in diesem Kapitel zum einen die abstrakte Idee und Vorstellung des
Feuers und zum anderen das konkret Materielle beim Verbrennungsprozess, den wir
heute physikalisch und chemisch sehr genau kennen. Das im Titel dieses Kapitels
verwendete Sanskritwort indhana hat
die konkret materielle Bedeutung von Brennstoff, Holz und Gras usw., die für das
Feuer verwendet wurden.
Das
Feuer wird in der buddhistischen Lehre und Praxis häufig behandelt und ist Teil in
verschiedener Zeremonien. Es hat z.B. in den hochgelegenen Klöstern in China
und Japan, in denen es im Winter bitterkalt war, die ganz besondere Bedeutung, weil sich die Menschen so wärmen konnten. Aus China sind daher auch zahlreiche
Kôan-Gespräche großer Meister zum Thema des Feuers überliefert.
Häufig
wird am Beispiel vom Feuerholz, dem Verbrennungsprozess und der übrig bleibenden
Asche die Frage untersucht, wie das Verhältnis des Ergebnisses, also der Asche,
zum Feuerholz und zum Feuer zu verstehen ist. Dabei wird insbesondere
durchleuchtet, wie ein Ergebnis durch die intellektuelle
Tätigkeit des Geistes mit dem vorherigen Zustand und Material in Verbindung
steht. Wenn nach der Verbrennung das Feuerholz restlos verschwunden ist, und zu einem späteren Zeitpunkt die Asche da ist, neigen wir wie
selbstverständlich dazu, die Asche als das Ergebnis der Verbrennung des
Brennstoffes zu sehen. Dieser Zusammenhang bedarf jedoch einer genaueren
Analyse, nicht zuletzt in Bezug auf die Frage, welche Realitäten jeweils im
Augenblick existieren und welche Zusammenhänge nur mental durch unser Gehirn
hergestellt werden.
Besonders
interessant und aufschlussreich ist eine derartige Untersuchung, wenn wir das
Handeln im Augenblick als einzige Wirklichkeit erkennen. Derartige
Untersuchungen sind in der westlichen Philosophie leider kaum vorhanden und
wenig ausgearbeitet. Die westliche Philosophie bleibt meistens dem Ideellen des Geistes oder dem Materiellen der physikalisch-chemischen
Dimension verhaftet.
Vers
1
Die
abstrakte Idee des Feuers, z.B. als Vorstellung in unserem Gehirn, und die
materielle Verbrennung können wir unterscheiden. Die Wirklichkeit der konkreten Flamme geht aber darüber
hinaus, so wie das konkrete Handeln
über die Abstraktion des menschlichen
Verhaltens hinausgeht.
Es
ist selbstverständlich, dass es keine Flamme ohne den physikalisch-chemischen
Vorgang der Verbrennung geben kann. Eine Trennung von beidem wäre daher absurd.
Vers
2
Die
abstrakte Idee des ewigen Lichtes und
der ewigen Flamme ist etwas anderes als die konkrete
Flamme direkt vor uns im Hier und Jetzt.
Die
Idee des ewigen Lichtes kann leicht missbraucht werden, sie ist dann völlig wertlos
und hat keine Bedeutung für unser Leben. Wer eine Flamme, z.B. einer Kerze oder
einer Öllampe, genau und offen beobachtet, wird feststellen, dass die Flamme
ein wirkliches Wunder ist.
Vers
3
Durch
die Idee des ewigen Lichtes dürfen
wir die Bedeutung und konkrete Beobachtung der Wirklichkeit nicht verlieren.
Wer einseitig an das ewige Licht glaubt, nur als abstrakte Idee, kann leicht in
Ablehnung und Nihilismus der realen Welt verfallen, diese Welt ist aber direkt um
uns.
Dann
wäre die Idee des ewigen Lichtes
nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich für unser Leben im Hier und
Jetzt.
Es
ist daher unsinnig, die abstrakte Idee und Vorstellung der Verbrennung oder
anderer Arten von Abstraktionen von der wirklichen Flamme zu trennen.
Eine
übergroße Sehnsucht nach dem ewigen Licht führt zum Anhangen und zur
Abhängigkeit von solchen idealisierten Vorstellungen.
Vers
4
Nagarjuna
betont in diesem Vers, dass wir sehr genau analysieren sollen, ob ein
angestrebtes Ziel auch wirklich erreicht worden ist oder ob wir uns dabei etwas
vormachen. Bei der Frage ob ein Ziel
erreicht worden ist, dass wir gern erreichen würden, ist daher unbedingt
Sachlichkeit erforderlich, um nicht Illusionen mit der Wirklichkeit zu verwechseln.
Außerdem
kann die Zukunft nie im Einzelnen ganz genau vorhergesehen werden, sodass auch
den Zielen immer diese Unsicherheit der Zukunft anhaftet. Die Zukunft kann
niemals so genau sein wie die Realität im gegenwärtigen Augenblick.
Es
gibt Dinge und Phänomene in dieser Welt, die nicht zerstört werden können und
dies gilt auch für die Zukunft. Manche Sorgen und Ängste über die Zukunft sind
daher von den Tatsachen her unbegründet.
Nagarjuna
vergleicht die wirkliche langfristige Bedeutung der Begriffe Feuer, Verbrennung
und Flamme mit dem Geschlecht der Worte in der Sprache: Begriffe wie maskulin,
feminin oder Neutrum werden auch in Zukunft gleiche oder ähnlich Bedeutung
haben.
Vers
6
Nagarjuna
kommt noch einmal auf das Geschlecht der Wörter zu sprechen. Im Sanskrit ist
Verbrennung weiblich und Feuer männlich. Eine gedankliche Trennung oder
Veränderung des Geschlechts der Worte ist nicht sinnvoll.
Die
materielle Dimension der Verbrennung, die wir naturwissenschaftlich recht genau
beschreiben können, verliert wesentlich an Bedeutung, wenn wir sie von dem
Feuer als abstrakte Vorstellung und deren Bedeutung trennen. Das heißt, dass
die nur materielle Dimension der Dinge und Phänomene dieser Welt ohne deren
Sinn und die Idee unser Leben verarmen und austrocknen. Diese Aussage
Nagarjunas ist in der Gegenwart des Materialismus und der jetzigen spirituellen
Verarmung besonders wichtig.
Am
Beispiel der Worte und deren Geschlechts können wir zudem aufzeigen, dass das
Weibliche auch das Männliche enthält und umgekehrt.
Vers
7
Wenn
wir in der konkreten Wirklichkeit gedanklich das Feuer von der Verbrennung
trennen, so ist es auch umgekehrt möglich, die Verbrennung von dem Feuer zu
trennen. Das ist zwar beim Denken möglich, aber in der Wirklichkeit natürlich
nicht. Daher ist es so wichtig, dass wir unsere Ideen und Gedanken mit der
Wirklichkeit in Übereinstimmung bringen.
Die
Einheit von Feuer und Verbrennung ist vollkommen. Dies kann man gleichnishaft
auch so ausdrücken, dass sich Feuer und Verbrennung nicht als etwas jeweils anderes
bemerken können.
Vers
8
Die
Fähigkeit konkret die Flamme als Ganzes zu erkennen, ist die Grundlage für
materielle Theorien der Verbrennung als Prozess und für die abstrakten Ideen über
das Feuer. Daher ist die Verbrennung als Teildimension gegenüber der
ganzheitlichen Erfahrung der Flamme eher neben geordnet. Ähnliches gilt für
abstrakte Ideen über das Feuer.
Wenn
wir jedoch unser eigenes Verhalten und Denken einer genauen Überprüfung
unterziehen, können wir sicher feststellen, dass wir dazu neigen, umgekehrt
vorzugehen: aufgrund unserer abstrakten
Ideen beobachten wir die Wirklichkeit
und verengen und verzerren sie dadurch. Auch die nur materiell
naturwissenschaftliche Sicht ergibt eine solche Verengung, da die spirituelle
Dimension fehlt.
Aber
selbst realitätsnahe Überlegungen und
Ideen sind nicht die Wirklichkeit selbst. Die Wirklichkeit ergibt sich
durch unmittelbare Erfahrung frei von verzerrenden Vorstellungen und
Überlegungen.
Vers
9
Die
materielle Dimension der Verbrennung und die abstrakte Dimension des Feuers
erkennen wir, indem wir die Flamme genau und direkt beobachten. Wegen der
wirklichen Erfahrung der Flamme können wir sinnvoll abstrakt über Feuer reden.
In
Bezug auf die Verbrennung können wir uns sogar materiell vorstellen, dass es Zustände ohne Verbrennung gibt. Was will
Nagarjuna damit sagen?
Wir
sollten uns nicht in Ideen und Überlegungen verlieren und sie als reale
Wirklichkeit verstehen. Je konkreter wir beobachten, ohne uns dabei auf die
materielle Dimension zu reduzieren, desto näher kommen wir der Wirklichkeit.
Dies gilt für das Beispiel der Flamme, und auch allgemein für unser Leben.
Vers
10
Dieser
Vers betont den Unterschied der wirklichen Existenz von den Worten und
Vorstellungen des Begriffes „Existenz“. Derartige Ideen und Vorstellungen sind
aber nicht real und nicht die Wirklichkeit. Sie benennen zwar die Wirklichkeit,
sind aber nicht mit ihr identisch.
Nachdem
Nagarjuna keinen Zweifel daran gelassen hat, dass es die Wirklichkeit in
unserem Leben, in der Welt und im Universum gibt, stellt er nun die Frage, ob
es möglich ist, diese Wirklichkeit vollkommen
zu erkennen. Die Antwort lautet, dass die Wirklichkeit unfassbar ist. In einer modernen Formulierung heißt
dies, dass die Komplexität der Wirklichkeit unendlich ist und daher nicht
vollständig erkannt oder beschrieben werden kann.
Vers
10
Nagarjuna
betont, dass nur die konkrete Wirklichkeit real ist und existiert. Dies
unterscheidet sich häufig von dem, was wir als existent denken und uns vorstellen und mit dem Wort Existenz bezeichnen.
Unser
Gehirn erzeugt die verschiedensten Varianten der sogenannten Existenz, die
jedoch häufig überhaupt keine Wirklichkeit ist. Eine solche „Existenz“ ist dann
nur eine Idee, Vorstellung oder Illusion.
Die
Wirklichkeit ist niemals vollständig zu
verstehen und hat immer die Qualität des Unfassbaren. Wir können sie im Tun und Handeln erfahren, aber nicht vollständig in Worten ausdrücken.
Vers
11
Was
unser Interesse in der Wirklichkeit erweckt hat, wird von uns wahrgenommen und
existiert daher so für uns. Allerdings nehmen wir sehr Vieles der Wirklichkeit
dieser Welt überhaupt nicht wahr.
Auf
der anderen Seite können wir nur das wirklich
wahrnehmen, was zur Realität gehört und das nicht wahrnehmen, was gar nicht
real ist. Viele unserer Ideen und Vorstellungen sind wie gesagt nicht Teil der Wirklichkeit.
Es
ist von zentraler Bedeutung, dass die Wirklichkeit völlig unabhängig davon ist,
ob wir sie mögen oder nicht, ob wir
sie lieben oder hassen. Wir sollten uns daher für die wahre Existenz und die
einfache Erfahrung öffnen und uns nicht von unseren Bewertungen abhängig machen.
Vers
12
Die
materielle Tatsache der Verbrennung bedeutet, dass wir die Tatsache der Flamme
erkennen. Auch für die materiellen Aspekte, also der Verbrennung, kann es
verschiedene Interpretationen und Bedeutungen geben, die wir dann als mentale
Konstruktion einstufen müssen. Sie sind aber von der Wirklichkeit der Flamme
verschieden.
Nagarjuna
geht dann auf die Frage ein, ob wir indifferent gegenüber den Bedeutungen und
der Wirklichkeit der Flamme sein können: er verneint dieses ganz klar, denn
Indifferenz und Bedeutungslosigkeit widerspricht der Wirklichkeit unseres
Lebens und des Universums. Selbst der materielle Aspekt des Feuers existiert
nicht ohne Bedeutung.
Vers
13
Die
Wirklichkeit der Flamme hat immer sowohl den Aspekt der Bedeutung als auch des
Materiellen. Die konkrete Form der Flamme als ganzheitliche Wirklichkeit ist
jedoch mehr als die naturwissenschaftliche Erklärung der Verbrennung. Diese
Unterscheidung kann wie das Beispiel des Gehens im zweiten Kapitel verstanden
werden. Die Erinnerung gegangen zu sein, die Erwartung in der Zukunft zu gehen
und das Denken über das Gehen ist etwas grundsätzlich anderes als die
Wirklichkeit des Gehens selbst.
Vers
14
Die
Ganzheitlichkeit der Flamme ist nicht dasselbe wie die materiell-naturwissenschaftliche
Erklärung und Theorie der Verbrennung. Aber Flamme und Verbrennung gibt es
nicht an getrennten Orten, sondern sie gehören unauflösbar zusammen.
Die
Flamme ist keine Imitation und kein Abbild der Verbrennung, denn sie ist
umfassender. Die Verbrennung ist wiederum eine Theorie und Erklärung und keine
Entität mit dinghaftem unabhängigem Charakter.
Die
Verbrennung erzeugt daher auch nicht die Flamme, die als Wirklichkeit für sich
selbst steht. Die Verbrennung ist eine wissenschaftliche Erklärung und ist
etwas anderes als die Wirklichkeit, die sie erklärt oder erklären soll.
Vers
15
Die
Wirklichkeit der Flamme bildet eine Einheit mit dem Feuer und der Verbrennung,
und damit der Einheit der gedanklichen
Überlegung uns Sinneswahrnehmung.
Alle
Dinge und Phänomene sind weit mehr als das, was wir sehen und wahrnehmen
können. Sie haben eine unendliche Komplexität. Man kann sie daher mit der
komplexen Struktur eines Gewebes vergleichen.
In
ähnlicher Weise ist das weiße Licht aus komplexen Einzelteilen zusammengesetzt,
z.B. im unsichtbaren ultravioletten und infraroten Teil. Der Buddhismus geht über
diese naturwissenschaftlich–materiellen Dimensionen hinaus, die schon für sich
betrachtet unendliche Komplexität besitzen.
Vers
16
Die
konkrete Wirklichkeit und Ideen existieren in den Dingen und Phänomenen, die
gleichzeitig jeweils auch einzeln da sind. Aus der Sicht des Buddhismus gibt es
die Totalität der umfassenden Existenz in jedem einzelnen Ding und Phänomen.
Häufig
kümmern wir uns nicht um die wahre Natur dieser Dinge und Phänomene. Dadurch
geraten wir in Schwierigkeiten und haben trotz erheblicher Anstrengungen bestimmte
verengte und verzerrte Weltanschauungen. Wir treffen daher falsche Entscheidungen und bringen unser eigenes Leben in große Gefahren. Es ist sogar
möglich, dass wir die wahre Bedeutung unseres Lebens zerstören.