Handeln im Augenblick: Der Kern der buddhistischen Lehre (Teil 1)
(Aus dem Buch: "Begegnung mit dem wahren Drachen", erscheint Ende November 2008 im DONA-Verlag)
Die Erörterung im vorherigen Kapitel hat die sehr wichtige Frage des Handelns und der menschlichen Freiheit berührt. Gautama Buddha lehrte uns, die Gelöbnisse einzuhalten. Er lehrte uns, richtig zu handeln und nichts Falsches zu tun. Eine solche Lehre scheint die Freiheit des Menschen zum Handeln vorauszusetzen, denn wenn wir in der Lage sind, Richtiges zu tun, müssen wir frei sein und uns dafür entscheiden können. Aber Gautama Buddha lehrte uns auch das Gesetz von Ursache und Wirkung.
Er lehrte uns zu sehen, wie die Dinge der Welt tatsächlich zustande kommen und wie sie zusammenhängen. Nichts entsteht ohne Ursache und losgelöst von anderen Zusammenhängen. Alle Dinge sind verbunden und voneinander abhängig. Unser Leben und das Universum selbst werden durch ungeheuer viele Ketten von Ursachen und Wirkungen erzeugt. Wenn solche Ketten entstehen, sich ausweiten und sich überschneiden, entsteht ein miteinander verbundenes Netzwerk von verursachenden Zusammenhängen, ein Netz, in das das Universum selbst eingebunden ist. Wie kann es aber in einem solch vernetzten Universum die Freiheit geben, sich zu entscheiden und das Richtige zu tun?
Dies ist philosophisch gesehen ein großes Problem. Wir haben das tiefe Gefühl, dass wir frei sein müssen, aber wenn wir uns die Ereignisse unseres Lebens und die Welt um uns herum anschauen, werden wir daran zweifeln müssen. Kann es sein, dass diese Freiheit eine Illusion ist? In der westlichen Welt ist das Problem der menschlichen Freiheit in der Tat das Zentrum philosophischer Fragen, Kontroversen und Erörterungen. Seit fast dreitausend Jahren ringen die großen Philosophen mit dem Konflikt zwischen freiem Willen und Determinismus.
Religiöse Führer und idealistische Denker bestehen normalerweise darauf, dass wir im Wesentlichen frei sind. Sie sehen uns als Meister unseres eigenen Schicksals. Wie wir wählen und wie wir entscheiden, sei das bestimmende Element unseres Lebens. Wir können also zwischen gut und schlecht, richtig und falsch, zwischen spirituellem Erwachen oder materieller Verödung entscheiden. Der Körper mag Gegenstand bestimmter physikalischer Gesetze sein, aber der Geist sei frei in Ewigkeit. So muss es sein, auf jeden Fall glauben sie daran.
Materialistische Philosophen sagen genau das Gegenteil, nämlich, dass die Idee der menschlichen Freiheit Wunschdenken und Illusion sei. Wir sind demnach nicht wirklich frei. Unser Handeln, unser Leben und sogar unsere Gedanken werden bestimmt durch unsere Gene, durch unsere Familie, durch unsere Erziehung und unsere Gesellschaft usw. Der Verlauf der menschlichen Geschichte ist ihnen zufolge nur die Entfaltung des Gesetzes von Ursache und Wirkung, Freiheit nur eine schöne Illusion.
Die Philosophen dieser beiden Denkrichtungen haben jeweils beeindruckende und großartige Theorien zur Unterstützung ihrer Sichtweise entwickelt. Sie drängen uns, Partei zu ergreifen, damit wir die „Wahrheit“ sehen können. Aber viele von uns ziehen es vor, sich dabei nicht festzulegen, weil wir das Gefühl haben, dass eine derartige Wahl zwischen den Extremen zu dogmatisch und zu weit reichend ist. Wenn wir die Lehre der idealistischen Philosophen annehmen, müssen wir wohl die Erklärungen der Naturwissenschaft und die Verlässlichkeit unserer eigenen Sinneswahrnehmungen bezweifeln.
Wenn wir aber auf der Seite der materialistischen Philosophie stehen und glauben, dass das Gesetz von Ursache und Wirkung immer gilt, müssen wir wohl die menschliche Freiheit und die Möglichkeit von moralisch richtigem Handeln verneinen. Es ist tatsächlich eine schwierige Wahl. Wir würden gern einen Kompromiss finden, einen Ausweg aus dem Dilemma, aber es gibt in der Tat zunächst keinen Ausweg. Wir müssen dieser Tatsache ins Auge sehen. Es ist eine Tatsache, dass wir nicht wirklich an die Freiheit und an das Gesetz von Ursache und Wirkung gleichzeitig glauben können, weil sie widersprüchlich und unvereinbar sind.
Manche Philosophen haben sich mit einer Wahrheit beschäftigt, die jenseits der unvereinbaren Wahlmöglichkeiten und des widersprüchlichen Glaubens an Freiheit oder Verursachung liegt. Indem sie die logische Schlussfolgerung der Dialektik benutzen, haben sie versucht, dieses dialektische Prinzip des Wechselspiels zwischen widersprüchlichen Meinungen aus dem Bereich des Denkens auf den Bereich der Entwicklung der gesamten Welt zu übertragen. Sie haben mit unterschiedlichem Erfolg versucht, eine Alternative zu den dogmatischen Standpunkten der dualistischen Denkweise des Idealismus und Materialismus zu finden.
Indem sie alternative Sichtweisen und Denkansätze verwendet haben, hofften sie, aus dem Bereich der unvereinbaren Gegensätze zu einer beweglicheren und weniger fixierten Konzeption der Wirklichkeit zu kommen: Eine monistische Konzeption, in der die getrennte Welt von Subjekt und Objekt in einer Sicht der Gesamtheit zusammengebracht wird, eine Sicht der Vollkommenheit und der Einheit.
Leider ist eine solche Sichtweise nur eine Vision, eine Art Bild. Dialektisches Denken ist nur das: eine Form des Denkens. Es ist auf den Bereich des Verstandes und des Denkens beschränkt. Im Bereich des Verstandes ist es aber ganz unmöglich, der dualistischen Welt wirklich zu entkommen. Obgleich die Dialektik eine ausgezeichnete Methode der Logik ist, waren die Philosophen, die sie benutzten, kaum in der Lage, die der Methode innewohnenden Grenzen zu überschreiten und die damit verbundenen Fehler zu vermeiden.
Der große Philosoph Hegel benutzte die Dialektik, um mehr als tausend Jahre des idealistischen westlichen Denkens zusammenzufassen. Er entwickelte ein Modell der Menschheit und des Universums, das den Geist als die grundlegende Wirklichkeit aller Dinge sah und nannte ihn Weltengeist. Auf der anderen Seite stützten sich Philosophen wie Marx auf die dialektische Logik, aber lehnten die Idee des Geistes als Grundlage des Universums ab. Sie argumentierten, dass alle Dinge allein durch Materie und Energie verursacht werden und sich in ihrer jetzigen Form durch das unaufhebbare Wirken des Gesetzes der Verursachung entwickelt haben.
Auf diese Weise wurde die kontroverse Diskussion fortgesetzt und die Argumente wurden immer feiner und komplizierter, aber der grundsätzliche Konflikt blieb leider bestehen. Kein Philosoph hatte eine dialektische Methode gefunden, um die Trennung von Geist und Körper zu überwinden. Es gibt bei uns immer noch große Verwirrung über diese grundsätzlichen Fragen des Lebens. Der Lösung der fundamentalen philosophischen Probleme wie des Gegensatzes von Freiheit und Determinismus sind wir immer noch nicht näher gekommen.
Wenn die großen Philosophen nicht in der Lage waren, dieses Problem zu lösen, stellt sich die Frage, ob wir hoffen dürfen, selbst weiter zu kommen und die Wahrheit zu finden. In der Tat glaube ich, dass die Wahrheit uns allen durch die Lehren von Gautama Buddha zugänglich ist. Er lebte in einer einfacheren Zeit. Das philosophische Denken war noch nicht so weit entwickelt und verfeinert, aber die Probleme, mit denen sich die Menschen konfrontiert sahen, waren nicht grundsätzlich verschieden von denen, die wir heute lösen müssen. Er war ein ehrlicher Mensch, der versuchte, die Konflikte, die sein Herz und seinen Geist spalteten, zu lösen. Er war sich des Problems der Freiheit voll bewusst. Er suchte viele Jahre lang nach der vollständigen Freiheit, die damals von verschiedenen religiösen Denkern propagiert wurde, aber sie entzog sich ihm immer wieder. Er konnte z. B. nicht den Wirkungen vergangener Handlungen entkommen und er konnte nicht die Folgen der realen Tatsachen in seinem Leben ignorieren.
Daher war das zentrale Problem der westlichen philosophischen Geschichte auch das zentrale Problem im Leben Gautama Buddhas. War der Geist, der die Menschen fragen und nach Erfüllung suchen lässt, die höchste Kraft im Universum oder waren die Menschen für immer durch die materiellen Gesetze von Ursache und Wirkung festgelegt? Gautama Buddha kämpfte lange Zeit mit diesem Problem. Seine Bemühungen, diesen inneren Lebenskonflikt zu lösen, führten ihn weg von der rein philosophischen Erörterung zu einer Phase materialistischen Experimentierens und reinen Genießens.
Schließlich fand er zu einem Leben des einfachen Handelns, einem Leben der Arbeit und einem Leben des schlichten Tuns. In einem solchen Leben entdeckte er die Lösung des Problems, das uns in der modernen Welt noch immer plagt. Die Lösung des Problems der Freiheit entwickelte sich bei Gautama Buddha direkt aus seiner eigenen Erfahrung. Seine Lehre war daher einfach, direkt und doch auch sehr fundiert. Wenn wir verstehen, wie Gautama Buddha den Konflikt zwischen Freiheit einerseits und Bestimmung durch Ursache/Wirkung andererseits gelöst hat, werden wir den Kern der buddhistischen Lehre selbst verstehen können.
Wie sieht nun seine Lösung aus? Wie ich schon gesagt habe, war Buddha ein ehrlicher, aufrichtiger Mensch. Er war sehr aufmerksam für das, was er in seinem Leben tun und was er lassen sollte. Er dachte viel über moralische Fragen nach und entdeckte, dass die Zeit dabei ein wichtiger Faktor war. Wenn er über Handlungen in der Vergangenheit nachdachte, erkannte er, dass manches Handeln falsch war. Er bedauerte die Fehler, die er begangen hatte, aber erkannte auch, dass dieses Bedauern die Lage nicht wirklich veränderte. Er konnte nämlich jene frühere Handlung nicht mehr rückgängig machen. Er konnte niemals in die Vergangenheit zurückkehren, um die früheren Fehler zu vermeiden. Dies war für ihn sehr bedrückend.
Als Gautama Buddha seine Aufmerksamkeit auf die Zukunft lenkte, wurde er sich eines anderen Gefühls bewusst. Die Möglichkeit, in der Zukunft richtig zu handeln, schien realistisch. Doch begann er, solchen hoffnungsvollen Gefühlen zu misstrauen und fand heraus, dass sie meistens auf Träumen und Illusionen beruhten. Er hatte viele Hoffnungen und Pläne, aber er erkannte, dass solche Träume in der Zukunft kaum vollständig verwirklicht werden könnten, denn die Zukunft war selbst nur eine Idee, ein Gedanke. Sie war etwas, das nur in seinem Geist vorhanden war und keine Wirklichkeit und Substanz besaß. Man kann niemals wirklich in der Zukunft leben.
Schließlich erkannte Gautama Buddha, dass bei der Zeit nur der gegenwärtige Augenblick zählt und wirklich ist. Er konnte darüber nachdenken, was sich in seinem Leben, das sich von der Vergangenheit bis in die Zukunft erstreckte, ereignet hatte oder ereignen würde, aber er konnte nur im gegenwärtigen Augenblick wirklich leben und handeln. Dies war nicht nur für ihn selbst richtig, sondern für alle Menschen. In der Tat kann alles im Universum nur im gegenwärtigen Augenblick existieren. Daher untersuchte Buddha den gegenwärtigen Augenblick. Er studierte die wirkliche Zeit, die Zeit der wirklichen Existenz. Er studierte das wirkliche Leben, wie es Augenblick für Augenblick Wirklichkeit war. Ihm wurde klar, dass das Denken und Fühlen ihn meist von der Wirklichkeit im gegenwärtigen Augenblick wegführte. In der Tat konnte es nur mitten im Augenblick des Handelns geschehen, dass Vergangenheit und Zukunft wegfielen und die Klarheit des Seins da war.
Im Zustand der Klarheit konnte er die Zeit und den Augenblick erfahren oder, um es anders auszudrücken, die Existenz, wie sie wirklich ist. Was er erfuhr, war das Jetzt, Jetzt, Jetzt. Jeder Moment war einzigartig und vollständig und, wenn man so will, vollkommen. Jeder Augenblick stand für sich in unabhängiger Größe und Würde, klar von der Vergangenheit getrennt und klar von der Zukunft abgegrenzt. Aber ein Augenblick konnte niemals vollständig mit dem Verstand erfasst werden, denn er war zu kurz und zu flüchtig. Er war nur ein Aufblinken, ein augenblicklicher Blitz von etwas. Dieses augenblickliche Aufblitzen war in der Tat alles, es war sein Leben und es war die Wirklichkeit. Es war das Universum selbst.
Auf diese Weise entdeckte Buddha, dass das Universum, in dem wir leben, nur im Augenblick wirklich ist und direkt erfahren werden kann. Diese Entdeckung gab ihm eine neue Sichtweise und ein neues Denken über das Leben und die philosophischen Probleme, die ihn in der Vergangenheit so sehr beunruhigt hatten. Er entwickelte eine Lehre, die wir die Philosophie des augenblicklichen Universums nennen können. Entsprechend dieser Lehre ist die Zeit wie ein Lichtblitz. Wenn das Licht aufblitzt, erscheinen wir und gleichzeitig erscheint das Universum. Wenn das Licht verlöscht, verschwinden wir und das Universum auch. Unser Leben ist eine lange Kette solcher Blitze von Augenblicken: ein fortwährendes Erscheinen und Verschwinden des Lebens, des Universums und unserer selbst.
Eine solche Lehre unterscheidet sich radikal von unserer herkömmlichen Vorstellung von Zeit. Wir stellen uns Zeit normalerweise als eine klare Linie vor, die von der weit entfernten Vergangenheit in die Zukunft führt. Aber ein solches Verständnis ist nur ein Konstrukt des Verstandes, eine Interpretation, die auf dem Gedächtnis und auf Zukunftsvorstellungen beruht. Eine solche verstandesmäßige Interpretation legt den Schwerpunkt auf die Vergangenheit und die Zukunft, aber vernachlässigt meist den Augenblick der Gegenwart, weil dieser Augenblick hier und jetzt jenseits unserer Reflektion ist und weil er mit dem Geist und dem Verstand nicht erfasst werden kann. Der Verstand arbeitet mit dem, was er kann, er wandert von der Vergangenheit in die Zukunft und zieht unsere Aufmerksamkeit immer wieder von der gegenwärtigen Zeit ab, obgleich diese die Wirklichkeit ist. In der Tat leben wir die meiste Zeit unseres Lebens in der geistigen Welt unserer Träume und Erinnerungen.
Indem wir geistig einmal in der Vergangenheit und ein anderes Mal in der Zukunft verweilen, werden wir hin- und hergezogen in einer Welt von ständig sich ändernden Sichtweisen, Erinnerungen und Standpunkten, in einer Welt der Verwirrungen und der Widersprüche. Philosophische Zweifel sind ein unausweichlicher Teil dieser Art zu leben. Wir suchen nach der Wahrheit in den Mustern vergangener Zusammenhänge von Ursache und Wirkung oder träumen von Freiheit und Glück in zukünftigen Tagen. Wir fragen uns, was eigentlich wirklich ist: die Welt unserer Erinnerungen oder die Welt unserer Träume, die Welt der unveränderlichen Tatsachen oder die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten.
Gautama Buddha lebte viele Jahre lang in dieser verwirrten Welt von Unklarheiten. Er hatte seine eigenen Träume und Erinnerungen, seine eigenen schmerzhaften Zweifel und philosophischen Fragen. Sein Leben war auf ähnlichen Ideen und Annahmen aufgebaut wie das unsrige und er unternahm gewaltige Anstrengungen, um die Konflikte zu lösen, die durch solche Ideen in seinem Leben entstanden waren. Von einem bestimmten Zeitpunkt an begann er jedoch, sich zu entspannen und auf einfache Weise zu leben. Er entdeckte die Erfüllung, Zazen zu praktizieren und durch diese Übungspraxis erreichte er ein natürliches Gleichgewicht und eine wunderbare Balance in Klarheit und Frieden. In diesem Zustand des natürlichen Gleichgewichts hatte er die Erfahrung von Zeit, wie sie wirklich ist. Er nahm die wirkliche Natur der Zeit wahr und verstand sie und durch dieses Verständnis überwand er seine früheren Vorstellungen und Theorien über sein Leben und das Universum.
Er erkannte, dass es in Wirklichkeit keinen tatsächlichen Widerspruch zwischen der Freiheit und dem Gesetz von Ursache und Wirkung gibt. Im Augenblick, in der Gegenwart, war er frei: Frei, um seinen Weg zu wählen, frei, zu handeln oder auch nicht zu handeln. Aber der Augenblick selbst entstand nicht durch irgendwelche Magie. Er konnte nur als Ergebnis einer langen Kette von Augenblicken erscheinen, die in ihrer Existenz aufleuchteten, einer nach dem anderen, in der Vergangenheit. So hatte die Vergangenheit die Möglichkeiten geschaffen, die in der gegenwärtigen Situation enthalten sind und der Augenblick hier und jetzt trägt das Gewicht der Vergangenheit und ist von ihr geprägt. Als Gautama Buddha über die Beziehung zwischen dem gegenwärtigen Augenblick und der Vergangenheit nachdachte, konnte er stets das Gesetz von Ursache und Wirkung finden, aber im wirklichen Leben hier und jetzt war er im Augenblick frei. Er hatte also die Macht, entsprechend seiner eigenen intuitiven Entscheidungen zu leben. Sein Leben war auf diese Weise zwar an die Vergangenheit gebunden, aber zur gleichen Zeit frei.
Dies war die Lösung, die Gautama Buddhas für den Widerspruch zwischen Freiheit und Vorausbestimmung durch Ursache und Wirkung fand. Im gegenwärtigen Augenblick sind wir beides, frei und gebunden. Es erscheint wie ein seltsamer Widerspruch, wie ein Paradox, aber es ist die Wirklichkeit unseres Lebens. Jeder von uns macht solche Erfahrungen in seinem Leben.
Das buddhistische Konzept der Zeit und des Universums, das nur im gegenwärtigen Augenblick existiert, ist Teil der umfassenderen Lehre des Buddhismus über das Handeln. Gautama Buddha erklärte, dass das Leben im Wesentlichen aus Handlungen im Hier und Jetzt besteht. Das Leben und das Handeln sind daher durch zwei Größen bestimmt: durch Zeit und Raum. „Hier“ ist die Bestimmung des Ortes. „Jetzt“ ist die Bestimmung der Zeit. Unser wirkliches Leben kann nicht außerhalb des konkreten Ortes und der konkreten Zeit existieren. Mit anderen Worten ist die Situation hier und jetzt unser wirkliches Leben. Von diesen beiden bestimmenden Größen ist die Zeit schwieriger zu verstehen als der Ort und aus diesem Grund ist die Lehre eines Universums, das fortwährend im Augenblick entsteht, so wichtig.
Meister Dogen sah diese Theorie als die Grundlage des Buddhismus überhaupt an. In seinen Schriften verdeutlicht er diese Lehre aus ungewöhnlichen Perspektiven und Sichtweisen und beleuchtet so alle wesentlichen Probleme. Es erscheint oft, als ob er eine subjektive und objektive Interpretation der Wirklichkeit zurückweist, um einem transzendenten Realismus Platz zu machen. Ein solcher Realismus sieht alle Dinge so, wie sie im Augenblick hier und jetzt sind. Manchmal ist diese Theorie nur impliziert, aber oft spricht Meister Dogen auch direkt von der Augenblicklichkeit des Lebens und des Universums. Eine solche Textstelle wird in dem Kapitel des Shobogenzo mit dem Titel „Die Erweckung des Bodhi-Geistes“ wiedergegeben:
„Im Allgemeinen beruhen die Erweckung des Geistes und die Verwirklichung der Wahrheit auf dem augenblicklichen Entstehen und Vergehen aller Dinge. Wenn (alle Dinge) nicht augenblicklich entstehen und wieder vergehen würden, könnte das Unrecht, das im vorherigen Augenblick begangen wurde, nicht fort gehen. Wenn das Unrecht, das im vorherigen Augenblick begangen wurde, noch nicht fort gegangen wäre, könnte das Rechte im Augenblick nicht verwirklicht werden. Nur der Tathagata kennt in aller Klarheit die Dauer dieses Augenblicks. (Es heißt,) dass der Geist ein gesprochenes Wort zu einer Zeit erzeugen kann und dass die Sprache ein geschriebenes Wort zu einer Zeit ausdrücken kann. Diese Lehre ist ebenfalls nur vom Tathagata, sie ist jenseits der Fähigkeit anderer Heiliger. Etwa in der Zeit, in der ein Mann einmal mit dem Finger schnippen kann, gibt es fünfundsechzig ksanas (Augenblicke), (in denen jede) der fünf Komponenten des Menschen (skandas) entsteht und vergeht, aber kein gewöhnlicher Mensch hat dies jemals wahrgenommen oder kennt es. Auch normale Menschen kannten die Länge einer Zeitspanne von einhundertzwanzig ksanas (Augenblicken). Im Laufe eines Tages und einer Nacht gibt es 6 500 990 980 ksanas (Augenblicke). (In jedem von ihnen) entstehen und vergehen die fünf Komponenten des Menschen (skandas), aber normale Menschen nehmen dies nicht wahr und wissen dies nicht. Weil sie es nicht wahrnehmen oder wissen, erwecken sie nicht den Bodhi-Geist. Wer den Buddha-Dharma nicht kennt und nicht an den Buddha-Dharma glaubt, glaubt auch nicht an das Prinzip des augenblicklichen Entstehens und Vergehens aller Dinge und Phänomene. Wer die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges des Tathagata und den wunderbaren Geist des Nirvana geklärt hat, glaubt unausweichlich an die Wahrheit des augenblicklichen Entstehens und Vergehens aller Dinge und Phänomene. Wenn wir der Lehre des Tathagata jetzt begegnen, fühlen wir, als ob wir dies klar verstanden haben, aber wir sind uns nur der (langen) Perioden des tatksana (von einhundertzwanzig Augenblicken) oder längerer Perioden bewusst und wir glauben nur, dass das Prinzip wahr sei.
Unser Unvermögen, alle die Dharmas des Weltgeehrten zu klären und unser Unvermögen, alle die Dharmas zu kennen, die der Weltgeehrte gelehrt hat, ist dasselbe wie unser Unvermögen, die Länge eines ksanas (Augenblick) zu kennen: Die Schüler sollen niemals aus Nachlässigkeit stolz werden. Wir sind nicht nur unwissend über das extrem Kleine, wir sind auch unwissend über das extrem Große. Auch gewöhnliche Wesen sehen die dreitausendfache Welt, wenn wir auf der Kraft der Wahrheit des Tathagata aufbauen. Zusammengefasst kann gesagt werden: Wenn wir von der lebenden Existenz in die mittlere Existenz gehen und von der mittleren in die nächste lebende Existenz, bewegen sich alle Dinge in einer fortlaufenden Kette, ksana (Augenblick) nach ksana (Augenblick). So geht der Kreislauf von Leben und Tod voran, ohne einen einzigen Augenblick anzuhalten, unabhängig von unseren Absichten und Wünschen und gelenkt vom dem vorherigen Handeln im Leben.
Mit dem Körper-Geist, der auf diese Weise durch den Kreislauf von Leben und Tod gefegt wird, sollten wir sogleich den Bodhi-Geist erwecken. Der Bodhi-Geist ist der Wille, andere zu befreien, bevor wir selbst die Befreiung erlangen. Auch wenn wir auf dem Weg sind, den Bodhi-Geist zu erwecken, (aber) unseren Körper-Geist nur ungern hergeben, wird er geboren, wird alt, krank und stirbt; am Ende ist es nicht unser eigener Besitz.“
Die Worte von Meister Dogen erscheinen ziemlich hart und kompromisslos, aber in Wirklichkeit ist seine Botschaft sehr mitfühlend. Er zeigt uns unsere wirkliche Lebenssituation. Er drängt uns, aufzuwachen und die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Es ist natürlich nicht einfach, die gewöhnliche Art unseres Denkens beiseite zu schieben und es ist nicht einfach, die übliche Vorstellung von Zeit zu überwinden; aber die Wahrheit besitzt eine große Kraft. Wenn wir die Kraft der Lehren Gautama Buddhas benutzen, können wir die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, verändern und wir können auch damit beginnen, unser Leben wirklich zum Besseren zu wenden.
Wir leben im Augenblick der Gegenwart. Dies ist wirklich eine sehr einfache Lehre. Es ist zunächst aber gar nicht so leicht einzusehen, warum eine solche einfache Lehre unser Leben verändern sollte. Wenn wir diese Aussage jedoch genauer untersuchen, werden wir es schwierig finden, viele bisherige Annahmen und Vorstellungen über unser Leben aufrecht zu erhalten. Der jetzige Augenblick ist unser Leben, ist unsere Wirklichkeit.
Die Vergangenheit und die Zukunft gibt es nur in unserem Gehirn, sie sind Erinnerungen oder Hoffnungen, Fantasien und Ängste, aber keine Wirklichkeit. Der gegenwärtige Augenblick ist alles. Im gegenwärtigen Augenblick können wir leben und können wir handeln. Wenn wir handeln, gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Körper und Geist. Wenn wir handeln, sind das handelnde Subjekt, das Objekt und die externe Welt eine Einheit. Dies sind die wesentlichen Inhalte der Lehre Gautama Buddhas. Wenn wir diese Eckpunkte der Lehre in unserem Leben ebenfalls zu erkennen beginnen, müssen wir natürlich unsere bisherige Sichtweise ändern.
Verstand und Körper, Geist und Materie, freier Wille und Determinismus – sie sind alles Dualitäten, die allein unserem Denken entspringen. Im gegenwärtigen Augenblick kann es solche Dualitäten nicht geben. Es gibt nur diesen Ort, diese Zeit, diese Handlung, dieses Leben, diese Existenz und dieses Universum: jetzt, jetzt, jetzt.Wenn wir diese Lehre praktisch anwenden, können wir meines Erachtens die Konflikte unserer großen Kulturen viel besser lösen. Wenn wir diese Lehre benutzen, können wir die Einheit von Körper und Geist, Verstand und Materie finden. Wenn wir diese Lehre benutzen, können wir einen neuen Weg finden, um die Widersprüche zwischen Idealismus und Materialismus zu überwinden und beide zusammenzuführen. Wenn wir diese Lehre zu einem selbstverständlichen Teil unseres täglichen Lebens machen, können wir kraftvoll und zugleich friedlich in der Erkenntnis leben, dass unser Leben sowohl frei als auch festgelegt ist. Wir können ein neues Leben beginnen, ein neues Leben in einem neuen Universum.
Freitag, 24. Oktober 2008
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