Vers 5
Niemand anderer kann genau
dasselbe sehen wie wir selbst, auch wenn er ganz nahe bei uns steht. Genauso
wenig kann ein anderer erkennen, wenn wir gar nicht sehen.
Dies hängt nicht zuletzt
damit zusammen, dass ein anderer nicht unsere Gedanken und Bilder im
Bewusstsein kennen und erfahren kann.
Obgleich wir mit Worten
versuchen, einem anderen Menschen genau zu erklären was wir sehen, gibt es
immer nur um eine gewisse Übereinstimmung, aber niemals genaue Gleichheit der
Wahrnehmung.
Wir müssen also beim Sehen
mehrere Unschärfen und Täuschungen in Kauf nehmen: Unser eigener Vorgang des Sehens
unterliegt Täuschungen und Verzerrungen, sodass wir die Wirklichkeit nicht
fehlerfrei erkennen können. Darüber hinaus gibt es das Problem der
Kommunikation mit anderen, um das Gesehene zu übermitteln und zu erklären.
Allgemein gilt: Unsere Sinne
arbeiten letztlich unvollständig, machen Fehler und die entsprechenden
Denkprozesse ergeben zusätzliche Unschärfen. Schließlich kann es keine perfekte
Kommunikation mit Worten zwischen den Menschen geben.
Obgleich die Funktion des
Sehens für uns von zentraler Bedeutung ist, dürfen wir nicht naiv glauben, dass
wir die ganze vielfältige Wirklichkeit wirklich sehen und anderen mitteilen
können.
Um zur Wirklichkeit zu
gelangen müssen wir daher über das materielles Sehen von Formen und Farben
hinausgehen.
Vers 6
Obgleich die Funktion des
Sehens erhebliche Unsicherheiten und Grenzen hat, dürfen wir sie niemals
geringschätzen, sondern wir müssen lediglich die Grenzen kennen und einbeziehen.
Wer seine persönliche Sicht
unbedingt durchsetzen will, neigt dazu, die Sichtweise anderer zu bezweifeln
und herabzusetzen.
Idealistische Philosophen
neigen auch dazu, dem geringe Bedeutung beizumessen was man in der Wirklichkeit
sehen kann.
Wenn man zwischen Subjekt
und Objekt des Sehens unterscheidet, ist dies eine dualistische Sichtweise. Die
Wirklichkeit der Welt ist jedoch ungeteilt. Eine solche umfassende Einheit ist
Grundlage der buddhistischen Lehre und Praxis.
Nagarjuna leugnet daher
trotz der Unzulänglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung nicht die Wirklichkeit.
Er ist kein Nihilist.
Vers 7
Ich folge der herrschenden
wissenschaftlichen Meinung, dass Vers 7 nachträglich eingefügt wurde und nicht
von Nagarjuna stammt, daher entfällt er.
Vers 8
Die Dualität von dem Ich,
das sieht und dem Objekt, das gesehen wird, muss überwunden werden, denn
Subjekt und Objekt sind eine Einheit, wie Nagarjuna betont.
Dann existieren die vier
Bereiche Verstehen, Wahrnehmung, Handlung und Wirklichkeit ganz real. Dabei ist
das Handeln im Augenblick von zentraler Bedeutung.
Wenn wir annehmen, dass die
Dinge und Phänomene dieser Welt nicht existieren, kann es überhaupt nichts
Wirkliches im Leben und in der Welt geben. Auch nicht in Zukunft.
In diesem Vers zeigt
Nagarjuna die Grenzen der materiellen Sichtweise auf, wegen der Trennung von
Subjekt und Objekt. Eine solche Trennung, die wir bekanntlich Dualität nennen,
hat nur sehr begrenzte Funktionsfähigkeit für unser Leben in der Wirklichkeit.
Daran zeigt sich, dass die materielle Dimension zwar eine Teil-Wahrheit aber
nicht die ganze umfassende Wirklichkeit ist.
Wenn wir an der Dualität des
Materiellen haften bleiben, ist uns daher der Zugang zur umfassenden
Wirklichkeit verschlossen.
Vers 9
Die Untersuchung und
Erklärung der Sinnesorgane, deren Funktion sowie die Wahrnehmung des Sehens
können in derselben Weise beschrieben werden wie die anderen Bereiche, also
Hören, Riechen, Schmecken usw..
In der materiellen Dimension
dieser Dualität gibt es daher beim Menschen, der hört, riecht, schmeckt usw.,
genauso wie beim Sehen. Aber in der Wirklichkeit bilden Subjekt und Objekt eine
Einheit, die im Augenblick mit dem Handeln zusammenfallen. Erst dadurch wird
der Zugang zur Wirklichkeit eröffnet.
Der Mensch ist der sozusagen
Träger der Handlungen (als Prozesse), und diese sind die konkrete Wirklichkeit.
Aber der Mensch ist als Person nicht die konkrete Basis der Wirklichkeit selbst.
Eine solche fundamentale Aussage Nagarjunas ist sicher für die Menschen des
Westens überraschend, denn wir sind in unserer Kultur ganz anders sozialisiert.
Ob wir es zunächst glauben oder nicht, Nagarjunas Aussage ist richtig.