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Meister Nishijima praktiziert Buddhismus seit über 60 Jahren. Er war Schüler von Meister Kodo Sawaki, einem japanischen umherziehenden Priester, der berühmt dafür war unermüdlich zu betonen, dass die Praxis des Zazen ihren richtigen zentralen Platz im Buddhismus erhält und der selbst intensiv praktizierte. Meister Nishijima wurde von Meister Renpo Niwa als Priester ordiniert, der später als Abt den Zentraltempel des Soto-Buddhismus leitete. Nishijima Roshi hat viele Bücher über Buddhismus u.a. von Dogen sowohl in Japanisch als auch in Englisch geschrieben. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren hat er in Japanisch und Englisch viele Vorträge gehalten, Seminare und Sesshins geleitet sowie genaue Anweisungen zum Buddhismus und vor allem zum Zazen gegeben. Deutsche Fassung: Yudo J. Seggelke

Freitag, 6. Juni 2008

Nichts Falsches tun und die buddhistischen Gelöbnisse (Teil 1)

Ich denke, wie wir in unserem Leben handeln, ist ein zentrales Problem der Philosophie, Religion und des Lebens selbst. Viele Religionen betrachten Moral als die unbedingte Pflicht, die moralischen Gesetze Gottes einzuhalten. Dann ist Moral eine spirituelle Frage, ein Problem des Bewusstseins und des guten Denkens gegenüber dem schlechten Denken. Der Buddhismus hat ein anderes Verständnis von Moral. Moral ist aus der Sicht eines Buddhisten nicht eine Frage des richtigen Denkens, sondern vor allem des richtigen Handelns. Ob etwas richtig oder falsch ist, wird nicht im Geist entschieden, sondern in der wirklichen Welt.

Die buddhistische Haltung gegenüber moralischen Problemen ist daher nicht spirituell oder idealistisch. Sie ist sehr praktisch und bodenständig. Eine solche Einstellung mag manche Menschen verwirren, die glauben, dass die Frage der Moral im Geist gelöst werden muss, aber im Geist hat die Moral keine Wirklichkeit und keine Substanz. Nur in der wirklichen Welt des Handelns kann Moral wirklich sein. Wir mögen zahllose gute und pietätvolle Gedanken hegen, aber wenn unser Handeln nicht richtig ist, ist solches Denken völlig nutzlos. Diese buddhistische Haltung mag ziemlich hart erscheinen, aber ich denke, wir benötigen sie, wenn wir lernen wollen, richtig zu leben.

Meister Dogen drückte die buddhistische Haltung in Bezug auf die Moral auf viele verschiedene Weisen aus. Ein Kapitel des Shobogenzo heißt „Erzeugt kein Unrecht“. Es fängt mit den Worten an:

„Ein alter Buddha lehrt: Vielfältiges Unrecht nicht zu erzeugen, die vielen Arten des richtigen Handelns achtungsvoll zu tun, macht das Herz auf natürliche Weise rein, dies lehren alle Buddhas.“

Der Schwerpunkt bei diesem Satz ist das Tun und vor allem, kein Unrecht zu tun. Erzeuge daher kein Unrecht, tue Recht. Später in demselben Kapitel gibt es eine Geschichte von einem Mann mit Namen Rakuten Haku. Er war ein berühmter Dichter, der den Buddhismus unter Meister Choka Dorin studierte. Eines Tages fragte er den Meister:

Was ist der große Sinn des Buddha-Dharma?“ Meister Dorin antwortete:
Kein Unrecht zu erzeugen und das Rechte zu tun.“
Rakuten Haku sagte, erstaunt über die einfache Antwort:

Wenn das so ist, kann selbst ein dreijähriges Kind diese Worte sagen.“

Meister Dorin antwortete:

„Selbst wenn ein dreijähriges Kind diese Wahrheit sagen kann, kann ein erfahrener Mann von achtzig Jahren sie nicht vollständig verwirklichen.“

Hier findet man wieder die Betonung auf dem Handeln gegenüber dem Denken und Reden. Aus buddhistischer Sicht ist das Denken darüber, was richtig und falsch ist, etwas vollständig anderes als das richtige oder falsche praktische Handeln. Denken ist nur eine Übung für das Gehirn. Richtig und falsch zu praktizieren ist das Leben selbst.

Diese Haltung ist sehr interessant, wenn wir die buddhistischen Gelöbnisse anschauen. Die Gelöbnisse sind Regeln für das richtige Verhalten und sagen uns, was wir tun sollen und was wir nicht tun sollen. Was halten wir von den Gelöbnissen, wenn Denken und Tun so unterschiedlich sind? Können verstandesmäßige Maßstäbe unser Handeln steuern? Dies ist eine wichtige Frage. Um die buddhistische Antwort zu verstehen, sollten wir zuerst wissen, was die Gelöbnisse sind. Wir sollten sie konkret untersuchen und ihre Praxistauglichkeit für unser tägliches Leben bedenken. Dann werden wir in der Lage sein, das Verhältnis von buddhistischer Moral und den Gelöbnissen zu verstehen, und gleichzeitig finden wir die wahre Bedeutung der Gelöbnisse in unserem Leben.

Um die Gelöbnisse zu verstehen, sollten wir uns ihren Ursprung in Indien vergegenwärtigen. Die buddhistische Gemeinde oder Sangha wuchs und entwickelte sich damals recht schnell. Die einfachen Regeln und Richtlinien, die von Gautama Buddha angeregt worden waren, mussten erweitert und ergänzt werden, um den wachsenden, verschiedenartigen und z. T. schwierigen Situationen und Problemen der Mitglieder der Gemeinschaft gerecht zu werden. Als es immer mehr Regeln gab, wurde es jedoch zunehmend schwieriger, frei und direkt zu handeln. Jeder Bereich des gemeinschaftlichen Lebens wurde dann durch solche Gesetze geregelt, zum Schluss gab es 250 Regeln für Mönche und 350 für Nonnen.

Diese komplizierte Ausgangslage war teilweise Ursache für das Entstehen des Mahayana-Buddhismus. Viele Priester und Laien fühlten, dass die übertriebene Beachtung der vielen Regeln und Gelöbnisse den ursprünglichen Geist von Gautama Buddhas Lehren erstickt hatte, und sie wandten sich daher 400 Jahre nach seinem Tod von dem Orden der Älteren ab und gründeten einen neuen Orden. In diesem Orden wurde das Ideal des Bodhisattva sehr wichtig. Ein Bodhisattva ist ein Mensch, der die Wahrheit des Buddhismus intuitiv und klar erkennt und sich deren Verwirklichung in seinem täglichen Leben widmet und vor allem den anderen hilft. In einem solchen Leben müssen die Regeln für das Verhalten relativ breit angelegt und flexibel gefasst sein, damit sie praktikabel sind und im Alltag in den verschiedensten Situationen angemessen sind.

Daher wurde die große Anzahl der Regeln und Vorschriften in 16 grundsätzlichen Gelöbnissen zusammengefasst, sie sind auch als die Bodhisattva-Gelöbnisse bekannt. Dass man diese Gelöbnisse empfängt, ist der Einstieg in das buddhistische Leben und Handeln in der wirklichen Welt.
Die sechzehn Gelöbnisse sind in drei Gruppen eingeteilt: die drei sogenannten Zufluchten, die drei allgemeinen Gelöbnisse und die zehn Grundgelöbnisse. Die drei Zufluchten beziehen sich auf Buddha, Dharma und Sangha; Buddha bezieht sich vor allem auf den Menschen Gautama Buddha.

Als Buddhisten fühlen wir eine große Hingabe zu dem Mann, der die Freiheit, Wirklichkeit und Wahrheit vor ca. 2.500 Jahren erlangte, der diese Wahrheit als Religion entwickelte und der den Menschen die Methode lehrte, dieselbe Freiheit und Wahrheit in ihrem eigenen Leben zu finden. Die Wahrheit wurde seit Gautama Buddhas Zeit von vielen Menschen verwirklicht. Sie wurden alle Buddha. Sie alle fanden die Wahrheit durch ihr eigenes Bestreben und Handeln. Sie gaben die buddhistischen Lehren durch die Jahrhunderte weiter bis in die heutige Zeit. Wir sind ihnen sehr dankbar. Wenn wir uns selbst Buddha hingeben, geben wir uns allen Buddhas der Vergangenheit, der Gegenwart und jenen, die in Zukunft kommen werden, hin, den Buddhas der drei Zeiten.

Hingabe dem Dharma gegenüber ist Hingabe an das Universum selbst, und das Universum hat seine Ordnung, seine Schönheit und seine Regeln. Als Buddhisten versuchen wir die Ordnung des Universums selbst zu verwirklichen. Wir verpflichten uns dieser Ordnung und wir widmen uns diesen Regeln des Universums. Das ist die Hingabe zum Dharma, und die Hingabe zum Dharma ist die Grundlage des Buddhismus.

Die Hingabe zum Sangha bezieht sich auf die Mönche, Nonnen und Laien des buddhistischen Ordens. Gautama Buddha lehrte uns, unsere Partner im buddhistischen Leben zu ehren. Er lehrte uns Hingabe gegenüber der Gemeinschaft, der Gesellschaft und jenen, die die Wahrheit suchen.

Die zweite Gruppe sind die drei allgemeinen Gelöbnisse. Das erste ist die Beachtung der Gesetze der Gesellschaft. Jede Gemeinschaft hat ihre Regeln und Gesetze. Wenn wir den Gesetzen unserer Gesellschaft nicht folgen, wird unser Leben wahrscheinlich durcheinander geraten. Daher sollten wir als Buddhisten die Gesetze der Gesellschaft grundsätzlich achten und befolgen.
Das zweite allgemeine Gelöbnis wird die Achtung des Dharma genannt. Dharma ist das Gesetz des Universums. Wenn man die Gesetze des Universums beachtet, bedeutet dies angemessenes Handeln in allen Situationen. Es bedeutet, ganz einfach gesagt, das Richtige zu tun und das Falsche nicht zu tun. Daher kann die Einhaltung des Dharma auch moralisches Handeln genannt werden. Es gibt viele soziale Regeln, aber wir müssen den Regeln der Moral folgen, welche die soziale Situation überschreiten. Wir müssen einer Moral folgen, die auf dem Gesetz des Universums selbst beruht.

Das dritte Gelöbnis dieser Gruppe besagt, dass wir für die Rettung aller Lebewesen leben und arbeiten. Der Buddhismus lehrt uns, dass wir Teil des Universums sind, und wir sind daher nicht isoliert, sondern Teil eines großen, gewaltigen lebenden Systems, das sich in allen Teilen des Universums und in allen Wesen widerspiegelt. Dies bedeutet, dass alle Lebewesen im Universum gemeinsame Eigenschaften haben und Teil einer essenziellen Natur sind, die nicht benannt oder definiert werden kann. Wenn wir daher unsere wahre Natur als menschliche Lebewesen verwirklichen wollen, ist es für uns natürlich, für das zu sorgen, was wir mit allen Wesen gemeinsam haben. Es ist also natürlich für uns, für die Rettung aller Lebewesen tätig zu sein.

Die drei Zufluchten und die allgemeinen Gelöbnisse sind sehr weit und umfassend angelegt, aber vielleicht etwas zu abstrakt. Daher gibt es zehn weitere Grundgelöbnisse. Sie sind enger und verdichtet und haben einen sehr konkreten Inhalt. Es sind die zehn folgenden:

1. Zerstöre kein Leben:
Wir alle sind lebendig. Das Leben durchdringt das ganze Universum und dies ist in einem bestimmten Sinne das Leben selbst. Leben zu zerstören bedeutet also einen Teil des Universums zu zerstören, einen Teil von uns selbst. Wir sollten nicht das zerstören, das ein Teil von uns ist und von dem wir ein Teil sind. Wir sollten kein Leben zerstören.

2. Stehle nicht:
Wir haben unseren eigenen Platz in der Welt, unsere eigene Stellung und unser Eigentum. Wir sollten nicht das nehmen, was jemand anderem und nicht uns gehört, wir sollten nicht stehlen. Wir sollten nur das nehmen, was uns gegeben ist.

3. Begehre nicht maßlos:
Wir alle haben Wünsche und Begierden. Wünsche und Begierden sind ein wichtiger Teil unseres Lebens, aber übertriebene und maßlose Begierden sind die Quelle des Unglücks. Sie zerstören unsere Ausgeglichenheit und machen uns im Leben abhängig und unglücklich. Wir sollten daher das Wesen der Wünsche und Begierden erkennen, und wir sollten nicht zulassen, dass sie unser Leben beherrschen. Wir sollten nicht maßlos begehren.

4. Lüge nicht:
Wir leben im Universum, und das Universum ist die Wahrheit selbst. Wahrheit und Ehrlichkeit sind untrennbar miteinander verbunden. Wenn wir nicht ehrlich sind, können wir niemals unsere wahre Situation im Universum finden. Wenn wir daher die Wahrheit finden wollen, müssen wir ehrlich sein. Wir dürfen nicht lügen.

5. Verdiene deinen Lebensunterhalt nicht durch den Verkauf von Alkohol:
Alkohol hat die Tendenz, das Gleichgewicht von Körper und Geist zu zerstören. Alkohol an andere zu verkaufen mag die Ursache dafür sein, dass sie ihr Ziel und Gleichgewicht im Leben verlieren. Wir sollten unseren Lebensunterhalt daher nicht mit dem Verkauf von Alkohol, Drogen oder Dingen, die anderen in dieser Welt schaden, verdienen.
Ich habe übrigens einige Zweifel wegen der Korrektheit dieses Gelöbnisses. Ich habe den Eindruck, dass die ursprüngliche Fassung so lautet, dass man keinen Alkohol trinken soll. Als der Buddhismus von Indien in die Länder China und Japan gelangte, wurde dieses Gelöbnis wohl geändert, um den dortigen Bedingungen gerecht zu werden. In den nördlichen Ländern wird Alkohol als wichtige Hilfe angesehen, um in den kalten Wintermonaten zu überleben. Daher glaube ich persönlich, dass es wichtig ist, zu vermeiden, Alkohol überhaupt oder zumindest im Übermaß zu trinken. Aber wir sollten das Gelöbnis trotzdem in der Form beachten, in der es an uns übermittelt wurde.

6. Rede nicht über die Fehler anderer:
Als Buddhist versuchen wir unser Bestes zu tun, ein buddhistisches Leben zu führen. Dabei machen wir aber oft Fehler. Es mag eigenartig klingen, aber unsere Fehler resultieren häufig direkt aus unseren Anstrengungen, unser Bestes zu geben. Dies ist eine einfache Tatsache des Lebens. Wenn wir also Fehler bei anderen sehen, sollten wir sie nicht sofort kritisieren, denn ihre Fehler könnten einfach ein Ergebnis ihrer Anstrengungen in ihrem Leben sein. Wir sollten grundsätzlich nicht über die Fehler anderer reden.

7. Lobe dich nicht selbst und erniedrige nicht andere:
Die moderne Psychologie sagt uns, dass die meisten von uns eine Art von Überlegenheits- oder Minderwertigkeitskomplex haben. Daraus ergibt sich die Tendenz, uns selbst oder andere zu loben und zu erhöhen oder zu kritisieren und zu erniedrigen. Wir sind aber alle menschliche Wesen. Wenn wir diese einfache Tatsache erkennen, ist es unmöglich, andere für ihre Fehler herabzusetzen und zu erniedrigen. Indem wir uns selbst loben, verschwenden wir unnütz Zeit und Energie.

8. Sei nicht geizig, wenn du die buddhistischen Lehren oder andere Dinge weitergibst, sondern gib den anderen reichlich:
Wir haben die Tendenz, mehr haben zu wollen, als wir bereits besitzen. Wir wollen mehr Lehren, wir wollen mehr Dinge. Aber wenn wir unsere Lage klar sehen, erkennen wir, dass wir Teil des großen wunderbaren Universums sind. Wir haben bereits alles, was wir benötigen. In einer solchen Situation ist es natürlich, anderen zu geben. Wir sollen daher die Lehren und unseren Reichtum mit anderen teilen. Wir sollten freigebig sein und ohne Selbstsucht geben und uns daran erinnern, dass dies ein natürliches Handeln aus unserer wirklichen Situation heraus ist.

9. Werde nicht wütend:
Viele von uns neigen dazu, auch bei geringen Anlässen aufbrausend zu sein und wütend zu werden. Obgleich dies ein normaler Teil unseres Charakters zu sein scheint, ist Wut kein natürlicher Zustand. Es ist keine natürliche Form unseres Lebens. Im Buddhismus versuchen wir, unsere Ausgeglichenheit und Mitte zu finden und zu halten. Starke negative Gefühle haben zur Folge, dass dieses Gleichgewicht zerstört wird. Sie bringen die natürliche Balance von Körper und Geist durcheinander. Wir sollten diese Tatsache nicht vergessen. Wir sollten nicht wütend werden.

10. Missbrauche nicht die drei höchsten Werte Buddha, Dharma und Sangha:
Sie sind die Grundlagen des buddhistischen Lebens. Wir müssen sie ehren, schätzen und uns ihnen hingeben.

Die Gelöbnisse auf diese Weise aufzulisten ist ziemlich trocken und langweilig. Sie sind philosophisch nicht besonders aufregend oder brillant, denn sie sind sehr einfach und direkt. Ich denke, dass sich in ihnen die grundsätzliche Natur der buddhistischen Religion widerspiegelt. Buddhismus ist eine sehr praktische Religion. Sie konzentriert sich darauf, dass wir den richtigen Weg finden zu leben. Aber leider ist dies keine einfache Aufgabe, denn wir neigen dazu, Fehler zu machen, und leiden dann an den Folgen. Die Gelöbnisse wurden entwickelt, um solche Fehler vermeiden zu helfen.

Sie haben Ähnlichkeit mit einem Schutzzaun, der eine große, wundervolle Wiese umschließt. Sie sind sozusagen der Zaun für die Kühe auf der Weide und so lange wir innerhalb dieses Schutzzauns bleiben, ist unser Leben sicher und ruhig und wir können uns frei bewegen. Aber sobald wir einen Schritt außerhalb des Zauns machen, finden wir uns auf schwankendem, gefährlichem Grund wieder. Wir sind dann in eine gefährliche Lage geraten und sollten zur Weide zurückkehren. Daher können wir sagen, dass die Gelöbnisse eine wesentliche Hilfe für ein zufriedenes und glückliches Leben sind und keine lebensfeindlichen Verbote.

Es gibt jedoch dabei noch ein Problem. Wir müssen uns fragen, ob die Gelöbnisse ihren Zweck wirklich erfüllen? Können die Gelöbnisse wirklich unser Handeln in der Welt steuern? Sind sie wirklich brauchbar? Die Antwort scheint nicht in den Gelöbnissen selbst zu liegen, sondern in unserer Einstellung zu ihnen. Wenn die Gelöbnisse zweckmäßig sind, muss unsere Haltung ihnen gegenüber das auch sein. Dies bedeutet, dass wir es nicht als Hauptziel unseres Lebens ansehen sollten, die Gelöbnisse einzuhalten. Vielleicht klingt es ein wenig seltsam, aber das es ist die buddhistische Auffassung. Meister Dogen sagt, dass wir die Gelöbnisse einhalten und rein bleiben sollten.

Aber gleichzeitig ist es falsch, wenn wir dies als die wichtigste Praxis und als alleiniges Ziel ansehen. Wir sollten nicht glauben, dass wir dadurch die Freiheit und Wahrheit erlangen werden. Die Gelöbnisse einzuhalten und rein zu bleiben ist der konkrete Weg, der von den Mönchen befolgt wird, und die übliche Lebensweise der Schüler Buddhas, und wir sollten dies daher in Zufriedenheit so praktizieren. Sie sind eine gute Sache, aber sie dürfen nicht als das alleinige Fundament des Buddha-Dharma angesehen werden. Die Gelöbnisse dürfen also nicht zum Selbstzweck werden.

Vielleicht erscheint diese Einstellung zu pragmatisch und kompromissbereit. Viele Religionen sind hierbei wesentlich strenger, denn bei ihnen gilt es oft als Sünde, die Gebote zu übertreten, und eine Sünde gilt gleichzeitig als ein Verbrechen gegen Gott. Daher ist es ihnen zufolge von ganz zentraler Bedeutung, die Gebote ganz genau einzuhalten. Demgegenüber scheint die buddhistische Einstellung vielleicht zu weich und zu flexibel zu sein. Pragmatisch zu sein mag unser Leben angenehmer gestalten, aber ist es wirklich die Aufgabe einer Religion, pragmatisch zu sein? Der Buddhismus besteht darauf, dass eine solche wirklichkeitsnahe Haltung für unser Leben absolut notwendig ist.

Unser Leben ist von großer Vielfalt und Komplexität, und wenn wir die Gelöbnisse zu starr anwenden, verlieren wir möglicherweise die Freiheit, kraftvoll und richtig zu handeln, und darauf kommt es an. Wir leben hier und jetzt und daher benötigen wir Regeln, die hier und jetzt anwendbar sind. Wir müssen unsere Gelöbnisse in jedem Augenblick anwenden. Die Wirklichkeit ist aber sehr veränderlich und vielfältig, so dass auch unsere Regeln veränderlich und flexibel sein sollten. Wahre Regeln müssen in der wirklichen Welt sinnvoll funktionieren. Die Gelöbnisse müssen daher im Einzelnen variabel anwendbar sein, aber gleichzeitig im Grundsatz feststehen und klar sein. Dies ist genau die Natur der buddhistischen Gelöbnisse. Sie helfen uns, korrekt zu leben. Sie geben uns einen Rahmen, der genaue und klare Grenzen hat, und wir sind trotzdem frei, Augenblick für Augenblick in den verschiedenen Situationen des Lebens korrekt zu handeln.
Ein chinesischer Priester sagte einmal: „Keine Regel ist unsere Regel.“ Dieser Satz drückt das buddhistische Verständnis genau aus. Die Gelöbnisse sind für uns wertvoll. Sie können uns vor und nach dem Handeln helfen, aber im Augenblick der Gegenwart, dann, wenn wir wirklich handeln, können wir uns nicht auf eine Regel stützen. Wir müssen unsere Entscheidung unmittelbar treffen, je nach der Situation. Im Gegenwärtigen Augenblick ist ohne Gelöbnis zu sein, unser Gelöbnis: „Keine Regel ist unsere Regel.“

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